Aufnahmerituale

Perlen von Holstein Folge 3

12. August 1997

Der große Tag war da. Anderthalb Stunden später als bisher stieg ich die Treppen der Handelsschule Kellinghusenstraße hinauf. Von halb fünf bis sechs probte der Hauptchor, zwei Mal die Woche.

Oben angekommen, überfielen mich Zweifel. Das hatte nichts mit dem Probenpensum zu tun, das stattliche zweihundert Prozent größer als das des Vorchors war. Gerade das war doch das Bewundernswerte an diesem Ensemble: Es benötigte nur drei Stunden pro Woche, um es quasi mit den Thomanern aufnehmen zu können. Und die übten den ganzen Tag.

Die Frage war viel mehr: War ich hier überhaupt willkommen?

Vielleicht hatte ich mich an jenem Tag vor den Ferien ja verhört oder irgendetwas falsch verstanden. Bestimmt hatten sie sich beim Vorchor vorhin schon gefragt, wo ich eigentlich bleibe.

‹Was ist denn mit Lenni-Löwe? Denkt er echt, er darf zum Hauptchor?› Und Frau Siebenkittel, die war jetzt sicher schrecklich böse auf und würde gleich mit mir schimpfen. Und die vom Hauptchor erst! Die würden noch jahrelang lachen über diesen Hosenscheißer, der doch tatsächlich geglaubt hatte, einer von ihnen zu sein.

Nein, ich durfte nicht zum Hauptchor, ich würde noch lange, lange beim Vorchor bleiben, vielleicht für immer.

Sollte ich es da überhaupt wagen, die Tür zu öffnen und hineinzugehen? Vielleicht war es besser zu verschwinden, ehe mich noch einer hier erwischte. Aber was würde meine Mutter sagen, wenn sie erfuhr, dass ihr Sohn sie angelogen hatte? Dass er doch nicht in den Hauptchor kam? Ich würde ihr nicht mehr unter die Augen treten können.

Eine ganze Zeit lang blieb ich so stehen. Schließlich aber nahm ich all meinen Mut zusammen, öffnete langsam die Tür und blickte mich um.

Vorne am Flügel saß Frau Siebenkittel. Zu ihrer Rechten standen ein großer und ein dicker Junge. Sie sangen und spielten und waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um mich zu bemerken.

Na los, Lenni-Löwe, jetzt oder nie!

Ich fixierte mit den Augen den Winkel des Raumes, der am weitesten von unserer Chorleiterin entfernt war, und schlich los.

«Wir eilen mit schwachen, doch emsigen Schritten –», sangen der große und der dicke Junge.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, die Fensterbank zu erreichen. Angekommen, stieg ich hinauf, kauerte mich hin und hielt einen Augenblick inne.

Niemand schien irgendetwas bemerkt zu haben.

Puh.

Fünfzehn Minuten später war sie endgültig da, die Stunde der Wahrheit. Frau Siebenkittel bat alle Anwesenden, sich zu den Stühlen zu begeben.

Ich stieg von der Fensterbank und ging mit den anderen mit.

Auf halbem Wege blieb ich unschlüssig stehen. Hier im Hauptchor saßen sie ja gar nicht im Kreis, sondern in Reihen. Wo sollte, wo durfte ich mich denn jetzt überhaupt hinsetzen?

«Lenni-Löwe, komm du mal bitte zu mir», sagte Frau Siebenkittel.

Ich erstarrte vor Schreck.

«Na, komm!», sagte unsere Chorleiterin freundlich.

Ganz langsam und bedächtig, als ob ich mich im Schwimmbad auf dem Zehn-Meter-Brett befände, tapste ich vorwärts. Irgendwann aber war ich neben Frau Siebenkittel angekommen.

Es gab kein Entrinnen.

Sie wartete, bis alle still waren, und redete los: «So, das hier ist Lenni-Löwe, der kommt aus dem Vorchor und den habe ich vor den Ferien gefragt, ob er es gut finden würde, im Hauptchor mitzusingen und da hat er jagesagt und deswegen singt er jetzt hier bei uns mit.»Somit war es offiziell: Lenni-Löwe war ab heute Mitglied des Hauptchores. Ich hatte mich nicht verhört und nichts falsch verstanden. Ein Stein fiel mir vom Herzen.

«Okay, Lenni-Löwe», sagte Frau Siebenkittel, «Es gibt hier für jeden, der neu ist, so ein Spiel. Jetzt sagt hier jeder einmal seinen Namen und du musst dir drei davon merken. Okay?»«Hm!», antwortete ich.

Und schon ging es los: «Jan», «Jonas», «Benedict», «Vinzent».

Die meisten redeten schnell und unverständlich. Sie wollten es ganz offensichtlich nicht weniger hinter sich bringen als ich. Einer aber, ein älterer Bursche in der dritten Reihe, sprach jede Silbe klar und deutlich aus.

Als ich dann drei Namen nennen sollte, blickte er mich erwartungsvoll an. Ich wusste, was zu tun war. Ich sagte seinen, er jubelte. Zwei andere bekam ich ebenfalls zusammen. Mein Lohn war ein anerkennendes Schulterklopfen von Frau Siebenkittel.

Ich war stolz auf mich: Erste Prüfung bestanden und sogar schon einen ersten Freund gewonnen.

«Gut, Lenni-Löwe», sagte Frau Siebenkittel, «dann setz dich doch am besten hier in die erste Reihe zu Andrej, den kennst du doch noch aus dem Vorchor.»Ich sah den rund zwei Köpfe größeren Jungen an und war mir im selben Augenblick sicher, ihn noch nie in meinem Leben gesehen zu haben. Das behielt ich aber für mich. Bloß jetzt nicht gleich unangenehm auffallen. Außerdem: Was wollte das schon heißen, dass ich nicht wusste, wer jemand war? In meiner neuen Klasse kannte ich auch nach einem halben Jahr noch immer nicht alle Namen, schon gar nicht die der Mädchen.

«So, ihr Lieben!», sagte Frau Siebenkittel, «Dann steht mal bitte auf, Pinsel auf den Kopf!»Ach, beim Hauptchor musste man in der Probe stehen? Da taten einem am Ende doch die Füße weh. Aber das war wohl der Preis, den man zu zahlen hatte, wenn man zur Elite gehören wollte. Ich war bereit.

«Okay, dann macht mal bitte: ffff, ssss, sssch!»Ich machte artig mit, auch wenn sich mir der Sinn dahinter nicht ganz erschloss. Das war ja wie in der ersten Klasse. Voller Abscheu dachte ich daran zurück, wie man uns hatte weismachen wollen, der Buchstabe L würde nicht Ell, sondern Lll ausgesprochen werden. Keine besonders erfreuliche Angelegenheit für jemanden, der zu dieser Zeit längst das Gesamtwerk von Astrid Lindgren in Angriff genommen hatte.

Immerhin: Anders als die Spezies Lehrer ging Frau Siebenkittel rasch zum nächsten Programmpunkt über.

«Okay», sagte sie, «und jetzt: Brrrraut brrrricht Brrrrot!»Also nun wurde es mir langsam doch ein wenig zu albern. Ich dachte, in einem Chor würde man singen und nicht schwachsinnige Sätze nachplappern. Ein Brot durchbrechen, wer tat denn sowas? Es war doch nicht aus Holz.

Doch es ging noch weiter. Jetzt sollten wir plötzlich sagen: «Brrrraut brrrricht brrraunes Brrrrot!»Und dann doch tatsächlich: «Mein grrrroßer Brrrruder brrrricht der Brrrraut das brrrraune Brrrrot!»Wo traf man eigentlich Menschen, die sich so etwas ausdachten?

Endlich sang Frau Siebenkittel etwas, wenn auch kein Lied im eigentlichen Sinne:

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Sie ließ uns die Melodie wieder und wieder nachsingen, jedes Mal ein klein wenig höher. Das machte sie so lange, bis keiner von uns die Töne mehr erreichte.

«Okay», sagte sie, «und wenn wir gleich die nächste Einsingübung machen, atmet mal ganz tief ein, bis in die Knie. Oder noch besser: Bis in die Füße.»Ich atmete so tief ein, wie ich konnte. Doch so sehr ich mich auch mühte, weiter runter als bis in die Bauchhöhle kam die Luft nicht.

Viel schlimmer als diese Anweisung war jedoch die Melodie, die wir zu singen hatten.

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Jetzt sollten wir also tatsächlich Blumen besingen. Was kam als nächstes? Vögel? Die Sonne? Ich würde wohl nie verstehen, was alle Welt und alle Erwachsenen an Natur so toll fanden. Wenn unsere Klassenlehrerin sagte: «Wir gehen in den Garten», und alle schrien «Ja!», wollte ich immer nur rufen: ‹Nein! Nein! Nein!› Immerhin musste man beim Hauptchor wohl nicht die ganze Zeit über stehen.

«Okay, dann setzt euch doch mal bitte», sagte Frau Siebenkittel und drückte mir ein Notenblatt in die Hand. ‹Exsultate Deo›, stand da drauf und: ‹Alessandro Scarlatti, 1660–1725›.

«Du musst immer singen, was hier oben bei ‹Sopran› steht», erklärte Andrej.

Ich nickte. Das klang nicht allzu kompliziert. War es wohl eigentlich auch nicht. Ich verlor dennoch ständig den Überblick. Andrej bemerkte das und versuchte, mir so gut es ging zu helfen. Wann immer er konnte, deutete er mit dem Finger auf die Stelle, an der wir uns gerade waren. Das half aber stets nur für eine Weile.

Was war das aber auch für ein merkwürdiges Lied. Es hatte keine Strophen, war irgendwie weder fröhlich, noch traurig und alle Stimmen sangen immerzu nach- und durcheinander.

Und wäre ich davon alleine nicht schon verwirrt genug gewesen, fing Frau Siebenkittel jetzt auch noch an, in fremden Zungen zu sprechen: «Macht doch bitte am Ende da nach dem Forte ein kleines Ritardando und davor am besten noch ein langes Crescendo.»Ich sah die morsche Gartenpforte am Haus unserer Großeltern und den tollkühnen Ritter Dando in voll Montur vor mir. Was ich mir aber unter einem Krähschendo vorzustellen hatte, hatte ich keine Ahnung. Fragen konnte ich schlecht, man würde mich doch auslachen. Ich war hier im Hauptchor, da musste man so etwas wissen.

Es war wohl am besten, einfach immer zu tun, was die anderen taten, und zu hoffen, dass ich eines Tages von selbst verstehen würde.