Über Lux aeterna von Gerd Domhardt, 1945–1997

«Voll mit Sternen glänzt die Erstaunende dort über Gebirgeshöhn traurig und prächtig herauf.» – Friedrich Hölderlin

Im Jahr 1996 wurde der Neue Knabenchor fünf Jahre alt und befand sich damals auf einem so hohen künstlerischen Niveau, dass wir vom AMJ – Arbeitskreis Musik in der Jugend eingeladen wurden, uns am Projekt «Komponisten schreiben für Kinder- und Jugendchöre» zu beteiligen. Wir waren dabei wohl auch eine Art von Versuchskaninchen, denn dieses Projekt wurde 1996 zum ersten Mal durchgeführt.

Projektzweck: «Die Fördermaßnahme vermittelt Partnerschaften zwischen deutschen Komponisten und Kinder- oder Jugendchören, von welchen in enger Kooperation ein neues Werk erarbeitet werden soll. Alle Phasen der Entstehung sollen gemeinsam besprochen werden. Die so entstandenen Werke werden in einem gemeinsamen Uraufführungskonzert vorgestellt und von Deutschlandradio Berlin aufgezeichnet. Das Ergebnis wird, zusammen mit den Noten der neuen Stücke, als CD veröffentlicht.»

Wir waren also dabei und bekamen als Komponisten Gerd Domhardt, 1945–1997, aus dem schönen Halle an der Saale zugelost. Der Name des Werkes sollte «Lux aeterna» – das ewige Licht – lauten. Wir waren gespannt.

Nun ist das ja mit Projektdefinitionen so eine Sache. Was gut in Schrift aussieht, ist ja in der Realität nicht immer so gut. Das lag aber nicht an uns, es lag, obwohl man über Verstorbene ja eigentlich nichts schlechtes sprechen soll, in diesem Fall lag es am Komponisten. Der hatte irgendwie eine schöpferische Sperre und kam nicht rüber mit seinem Werk.

Wir warteten und Frau Siebenkittel dibberte. Dann kam mal eine Seite des Œuvres, auf die wir uns begierig schmissen und bis zum Erbrechen probten. Schließlich hatten wir eine Ziellinie im Kalender: Uraufführung aller Werke des Projekts sollte am 1. Mai 1997 in St. Trinitatis in Wolfenbüttel stattfinden. Und Domhardts Sachen kamen nur spärlich. Immerhin hatten wir am 18. Februar 1997 schon zehn bin zwölf Seiten des Werks in Händen, welches wohl so auf sechzehn bis achtzehn Seiten angelegt war.

Irgendwann hatte Domhardt uns auch in Hamburg besucht, damals probten wir noch in der Schule Kellinghusenstraße. Er wollte uns hören, damit er uns sein Stück sozusagen auf die Stimmbänder schreiben konnte. Und wir sollten ja natürlich auch wissen, mit wem wir es zu tun hatten.

Und dann geschah das, womit keiner von uns gerechnet hatte. Am 18. Februar gegen Mittag klingelte mein Telefon. Am anderen Ende eine völlig verheulte Brigitte: Gerd Domhardt war am Morgen beim Joggen gestorben. Eigentlich ein schöner Tod. Morgens war in Halle, wie im übrigen Deutschland auch, schönes und klares Wetter. Temperaturen um die zehn Grad. Sonne. Deutschland frei von Wolken. Und da lag Herr Domhardt nun. Plötzliches Herzversagen beim morgendlichen Frühsport.

Nun, was war jetzt zu tun? Das Projekt aufgeben? Nö, das kam nicht in Frage, das waren wir uns selbst und auch Herrn Domhardt schuldig. Denn mittlerweile hatten wir auch begonnen, das Stück zu mögen, was anfänglich nicht der Fall war. Es ist halt schwer, ein Werk zu begreifen, wenn es nicht fertig ist.

Wie aber sollten wir das den Chorsängern beibringen? Zuerst war die Todesnachricht «geheime Verschlussache» von der nur der Chorvorstand und Frau Siebenkittel wussten. Wir wählten als «Verkündigungstermin» ein Konzert in St. Michaelis. Ich glaube Via Crucis von Franz Liszt. Im Anschluss an das Konzert bat Frau Siebenkittel den Chor, noch einen Augenblick sitzen zu bleiben. Wir hatten die Eltern zuvor gebeten zu uns zu kommen, weil es eine wichtige Mitteilung gäbe. Und dann schluckten wir einmal tief und berichteten den Sängern die traurige Nachricht. Ich werde nie vergessen, wie wir da oben auf der Konzertempore in St. Michaelis saßen, wie ein großer Haufen Elend. Ich habe Rotz und Wasser geheult und musste von einer Chormutter getröstet werden.

Aber: wenn der liebe Gott eine Tür schließt, öffnet er meistens ein Fenster. Und wir waren, auch Dank der phantastischen Unterstützung unserer damaligen Choreltern, uns sehr schnell einig, dass wir dieses Fenster nutzen wollten. Das waren wir, wie bereits gesagt, Herrn Domhardt, seiner Frau und auch dem AMJ schuldig. Und uns selbst übrigens auch.

Am 28. Februar 1997 fuhren Frau Siebenkittel und ich mit der Bahn nach Halle um an der Trauerfeier teilzunehmen. Damals mit ICE bis Kassel und dann weiter mit einem Interregio.

Trauerhalle auf dem Gertraudenfriedhof. Kein Pastor, weltliche Redner und viel Musik von Herrn Domhardt, unter anderem ein Streichquartett. Da habe ich das erstemal etwas aus der Feder von Herrn Domhardt in Gänze gehört und es berührt mich noch heute.

Es kam in einer der Trauerreden auch zur Erwähnung, dass er gerne weit gereist wäre. Weil das aber nicht ging, habe er sich häufig an den Zaun vom Flughafen Halle–Leipzig in Schkeuditz gestellt, und den Flugzeugen hinterher geschaut. Das hat mich damals sehr erschüttert.

Nach der Trauerfeier bekamen wir die letzten fertigen Seiten von Frau Domhardt. Und so hielten wir jetzt Domhardts Unvollendete in Händen. Wie geht man damit um? Nach der Trauerfeier hatte sich ein Schüler von Herrn Domhardt angeboten, das Werk fertig zu schreiben. Das wäre natürlich eine Möglichkeit gewesen, Mozarts Requiem wäre ja auch sonst nicht fertiggeworden, aber wirklich gut fanden wir das nicht. Und im Interregio nach Kassel beschlossen wir, das Werk unvollendet aufzuführen.

Unser Plan: am Ende, an der Stelle «slowly sprouting spirits». Ende. Aus. Pueri tacent. Mappe leise zu. So dramatisch hätte das Herr Domhardt nicht hingekriegt.

Dann die Uraufführung in St. Trinitatis Wolfenbüttel am 1. Mai 1997. Grandiose Generalprobe, die Uraufführung solide, aber nicht sensationell. Frau Domhardt saß im Publikum.

Wir waren ungefähr sieben Kinder- und Jugendchöre, die das Konzert bestritten. Und natürlich hatte Guido W, der Chorplayboy, ‹sich eine Ische aufgerissen›, wie Alexander Berkowitz es formulierte.

Guido war der einzige von uns, der nicht bei uns saß, sondern inmitten des Mädchenchors. Na, das tut jetzt nichts zur Sache. Somit hatten wir den Vorteil, Guido und seine «Ische» gut beobachten zu können. Und natürlich war es Nathanael, der genau mitzählte, wie oft Guido und die ‹Ische› sich – während des Konzerts! – küssten.

Später im Jahr, in den Herbstferien, waren wir eingeladen, an einer Probenwoche von Jugend musiziert in Schloss Weikersheim, Stammsitz der Herren von Hohenlohe in Weikersheim, als Ensemble teilzunehmen. Für lau! Wie bei Fielmann! Wir haben keinen Pfennig dazugezahlt, das war ja noch zu D-Mark und Pfennig-Zeiten!

Wir bekamen optimale Wohn- und Probenräume. Am vorletzten Abend sollte dann ein bunter Abend stattfinden. Da wir den Einzelkämpfern von Jugend-musiziert schon rein mengenmäßig überlegen waren, haben wir die natürlich hoffnungslos übergemangelt und dachten uns WSDSG – Weikersheim sucht das Schlossgespenst aus.

Mehr aus Pflichtgefühl, als aus Lust luden wir die Jugend-musiziert-Leute ein, sich in den Abend mit einzuklinken. Das Ergebnis war mehr als dürftig: ein Trompeter spielte irgendein Adagio aus einem Trompetenkonzert und das war es. Achnee, Anna, Hanna und Silvia aus dem Allgäu waren meine «reizenden Assistentinnen». Anna und Hanna waren auch sonst reizend, aber das gehört nicht hierher. Allerdings: Guido konnte bei denen nicht landen! Gelandet sind damals Sebastian, Lennart und Martin. Nachnahmen tun nix zur Sache.

Den Preis in Form eines rotlackierten Pokals hat Ute Hermann gewonnen, die damalige Geschäftsführerin von Jugend-musiziert Hamburg. Ohne Scheiß – in Weikersheim, ein Nest kleiner als Rahlstedt, gab es tatsächlich einen Laden, in dem man Pokale kaufen konnte!

Jedenfalls haben wir als Neuer Knabenchor an dem Abend echt Ehre eingelegt. Dass wir im Männerchor das strikte Alkoholverbot mit freundlicher Hochachtung missachteten, lag im wesentlichen daran, dass die «großen» Jugend-musiziert-Jungs regelmäßig nach draußen in die Büsche verschwanden, wo sie ihre Bierflaschen versteckt hielten. Das war uns zu blöd. Aber ich bin mit einiger Berechtigung fest überzeugt, dass wir weniger Bier tranken, als die JMler!

Ja, und dann war ja da noch das Konzert in der Kirche in Weikersheim. Zu diesem Zeitpunkt wurden dort die Fenster ausgetauscht und die nördliche Seite war in Plastikfolie eingehüllt. Mit anderen Worten: der Wind ging kräftig, es war ja Herbst und hatte nix vonwegen «Der Wind, der Wind, das himmlische Kind». Deswegen umbenannten wir den Organisten Patrick Pobeschin aus Stuttgart in Patrick Plaschtikfolie auf gut schwäbisch, weil er sich beklagte, dass die Plaschtikfolie ihn in seinem Orgelspiel störte.

Besonders stoppte der Wind nicht, als wir den Domhardt aufführten. Da ging der Wind durch die Folien wie das heilige Donnerwetter und gab der Aufführung eine zusätzliche Dramatik.

Ja, das war es, was ich zu berichten hatte. Warum aber der Hölderlin in der Überschrift? Vergleiche Seite fünf der Partitur von Lux aeterna. Da wird Hölderlin von Herrn Domhardt zitiert.

Das ewige Licht möge ihm leuchten, besonders, wenn ihr, die heutigen Knaben, das Werk mal wieder aufführt. Es ist eine kleine Viecherei, es zu proben, aber es ist aller Mühen wert, wie Ludwig Joachim von Arnim das 1817 ausgedrückt hat.

Schließlich: Lux aeterna ist unser Stück! Eigens für uns komponiert! Welcher Chor kann das von sich sagen: wir haben ein eigenes Chorwerk! Nicht einmal die Thomaner in Leipzig!

Euer Freund

Björn T. «Totto» Hückel, Ehrenmitglied mit großem Stolz