Ein Blick in die Zukunft?

Herr K. im Jahre 2053. Herr K. im Jahre 2053. Gesunde Ernährung, die Liebe zu seinem Chor und der Musik hält ihn jung.

Wir schreiben das Jahr 2053. Das Titelthema der sechsundneunzigsten Ausgabe der Chorzeitung des Neuen Hamburger Knabenchores, der Chorname wurde 2016 nach einer Volksabstimmung geändert, ist der achtzigste Geburtstag des Chorleiters Ulrich K, um die Identität des Betroffenen zu wahren, wurde der Nachname abgekürzt wiedergegeben, der am 25. Juni dieses Jahres die in der deutschen Verfassung festgelegte Ruhestandsgrenze für Chorleiter erreicht hat. Zu seinem Abschied dirigiert er in der Elbphilharmonie Es kommt ein Schiff geladen, ein Oratorium für fünfzehnstimmigen Knabenchor, Alt, Tenor, Bass, Erster Sopran und elffach geteilter Zweiter Sopran, drei Dudelsäcke, einen zweiseitigen Kontrabass, vier Triangeln, acht Blockföten sowie einen schwerhörigen Klavierstimmer. Das Werk fordert Ausführende und Zuhörer gleichermaßen. Jede der vier Strophen des Liedes wurde zu einer einstündigen Komposition, macht also insgesamt vier Stunden, wobei allein das Wort geladen siebenhundertzweiundfünfzigmal vertont wurde.

In der Pause zwischen der zweiten und dritten Strophe wird Herr K. von einem Pressevertreter gefragt, warum es denn als Abschiedswerk gerade ein Weihnachtsoratorium sein musste, da er sich bei zweiundreißig Grad im Schatten mit Weihnachtsgefühlen etwas schwer tue, die völlig veraltete Klimaanlage der Elbphilharmonie hatte schon zwei Jahre zuvor ihren Geist aufgegeben.

Herr K. antwortet: «Nun, das hängt mit meinen Anfängen als Chorleiter in Hamburg zusammen. Als damals noch junger und in pädagogischen Fragen gänzlich unerfahrener Dirigent ließ ich mich im November 2005 in einer Probe dazu hinreißen, dem gesamten Chor ein Eis zu versprechen, wenn ich den Titel des heutigen Werkes auch nur einmal komplett aussprechen sollte. Natürlich wartete der Chor wochenlang gespannt auf meinen Aussetzer, es entstand eine fast unerträgliche Anspannung aller Beteiligten, ich konnte kaum noch Schlaf finden und fand mich in Alpträumen auf geladenen Schiffen wieder.»

«Schließlich hielt ich dem unmenschlichen Druck nicht mehr stand und sprach das, was alle von mir hören wollten, am Heiligabend aus. In der ersten Probe des neuen Jahres, am 10. Januar 2006, bekamen dann die Jungs endlich ihr ersehntes Eis. Diese geradezu traumatischen Erfahrungen wollte, nein musste ich noch einmal verarbeiten, um meinen Ruhestand ohne innere Zerrissenheit genießen zu können, es ist also gewissermaßen ein psychomusikanalytisches Lebenswerk.»

An wen oder was er sich denn aus dieser Zeit noch erinnern könne, fragt der Pressevertreter. Herr K. kramt in seinen Erinnerungen: «Wen hätten wir denn da?»

«Da ist zum Beispiel Fabian V, der mir in meiner ersten Probe mit dem Vorchor das Lied aus der Bewerbungsprobe, von vor zwei Monaten, fehlerfrei vorsang, Nun fahren wir nach Rio – wahrscheinlich kann er es heute immer noch – und mir somit mein erstes Erfolgserlebnis bescherte.»

«Oder Alexander B, der mich an eben diesem Bewerbungstag fragte, was ich von einem Mitbestimmungsrecht des Chores bei der Werkauswahl hielte und der jahrelang glaubte, er hätte sich damit bei mir beliebt gemacht. So etwas vergisst man doch nicht!»

«Oder Daniel Br, dessen Sehnsucht nach zu Hause auf Chorreisen nur durch das berüchtigte Heimwehspiel meines Pocket PCs besiegt werden konnte. Leider schaffte ich es trotz größter Anstrengungen nicht, zwei Sänger des Ersten Basses, Lennart Sch. und David R, von der Genialität dieses Gerätes zu überzeugen.»

«Oder Per J, zehn Jahre, mit dem ich auf Wochen im Voraus Stimmbildungszeiten ausmachen konnte, da er alle seine Termine stets im Kopf hatte – und keineswegs seine Mutter fragen musste. Oder Béla B, der manches vergaß, aber niemals, sich um andere Jungs zu kümmern, wenn Sie Hilfe brauchten.»

«Oder Felix M, der innerhalb von zwei Wochen dreißig fast fehlerlose Notenlehrezettel schaffte, um möglichst schnell in den Hauptchor zu kommen und der mich so mit drei S-Bahnfahrten Korrekturlesen erfreute – pro dreißigminütiger Bahnfahrt schaffte ich damals etwa zehn Zettel.»

«Oder Jonas G, der solange unermüdlich zu Hause Töne treffen geübt hat, bis ich ihn nach mehreren Vorsinganläufen endlich in den Chor aufnahm.»

«Oder Frans B, der in verträumter Bescheidenheit – oder bescheidener Verträumtheit? – auf meine Frage ‹Wie war es denn?› achselzuckend mit ‹ganz normal eigentlich› reagierte, obwohl sich meine Frage auf den Besuch eines Fernsehteams in seinem Wohnzimmer bezog, wo er mit familiärer Unterstützung Hejo, spann den Wagen an zum Besten gegeben hatte.»

«Oder Julian P, bei dem manchmal Blicke mehr sagen als tausend Worte.»

«Oder Jürgen G, mit dem ich zwar ständig über Cappuccino gesprochen, aber viel zu selten auch einen getrunken habe.»

«Oder Max B, der meine erste Unmutsäußerung als neuer Chorleiter – ‹Ihr raubt mir noch den letzten Nerv› – ziemlich trocken mit ‹Oje, schon wieder ein Chorleiterwechsel› kommentierte.»

«Oder Volker S, der regelmäßig die neben ihm sitzenden Männer mit ironischen Bemerkungen über mich aus der Fassung brachte, was ich nur daran sah, dass alle lachten – außer er selber. Leider erfuhr ich nie den Inhalt.»

«Oder Georg S, der beim Fußballspiel gerne mal den Ball mit meinem linken Schienbein verwechselte.»

«Oder Leon T, der vermeintliche Süßigkeitenengpässe auf einer Konzertreise zum Anlass nahm, den Chor mit einer völlig überteuerten Fünfzigcentimeterriesenpackung Toblerone zu erfreuen. Da ich mich am Verzehr beteiligen durfte, fiel die meine Kritik eher milde aus. Oder –»

Herr K. hat noch etliche weitere Sänger in seinen Erinnerungen gefunden. Aus Platzgründen bleibt die Veröffentlichung der nächsten, also siebenundneunzigsten Ausgabe der Chorzeitung vorbehalten. Wann die erscheint? Das liegt jetzt an Euch!