Per aspera ad astra

Perlen von Holstein Folge 2

Um die ersten Wochen meiner Chormitgliedschaft ranken sich bis heute aberwitzige Legenden. Meine Mutter berichtet immer wieder unaufgefordert davon, dass ich nur in der Ecke gelegen und nicht mitgemacht hätte.

Frau Siebenkittel, die wenigstens dabei gewesen ist, hält dagegen: «Nein, Lenni-Löwe, Du hast immer nur wie so ein Schluck Wasser in der Kurve auf Deinem Stuhl gesessen und man wusste gar nicht, ob Du überhaupt irgendwas mitkriegst.»

Sie scheinen es beide nicht so recht mit der Wahrnehmung zu haben. Ich war der motivierteste, enthusiastischste, sangeswütigste Knabe, den dieser Chor je gesehen hatte. Die Proben wurden gewissermaßen von mir getragen.

Wie sollte es aber auch anders sein, bei dem, was mir hier alles geboten wurde. Das ging schon bei der Anfahrt los: Wir wohnten damals in Neuenfelde, einem Stadtteil, der am äußersten Rand von Hamburg liegt. Über eine Stunde durfte ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln reisen, um zur Probe zu gelangen: fünfundzwanzig Minuten mit dem Bus, fünfundzwanzig Minuten mit der S-Bahn und zwölf Minuten mit der U-Bahn. Zum ersten Mal ganz alleine.

Ein unglaubliches Abenteuer, zumal modernste Technik zum Einsatz kam. So hatten sie in die S-Bahnen vor kurzem Lampen eingebaut, die zu blinken begannen, sobald sich die Türen schlossen. Und das war noch längst nicht alles: Am Hauptbahnhof Süd erwartete mich eine Leinwand, auf der Nachrichten und das Horoskop gezeigt wurden – der Infoscreen. Hörte man dann mit mächtigem Getöse die Bahn heranbrettern, wurde man auch schriftlich gewarnt: «Achtung: Ein Zug fährt ein.» Ein unbeschreibliches Glücksgefühl ergriff mich, wenn ich das sah. Es war wirklich fantastisch, in einer Zeit solchen Fortschritts leben zu dürfen.

Richtig gelungen war ein Tag aber erst dann, wenn man ihn in einem Türnachaußenauf ausklingen lassen konnte. Das war ein Bus, dessen Türen sich bei Öffnen nach außen schoben. Wenn so einer vorfuhr, wusste ich: Es war ein Tag, der schöner gar nicht mehr werden konnte. Oder, um es mit Benjamin Blümchen zu sagen: Ein Knulli-Knulli-Wudschi-Wudschi-Tag.

Es war wirklich ein Jammer, das alles nur einmal pro Woche erleben zu können. So oft nämlich probte der Neue Knabenchor Hamburg, genauer gesagt: der Vorchor des Neuen Knabenchors Hamburg. Der Hauptchor war etwas, von dem sich selbst Frau Siebenkittel nur mit einer Mischung aus Andacht und Ehrfurcht zu reden getraute. Dort durfte ausschließlich mitsingen, wer es geschafft hatte. Wer sich als würdig erwiesen hatte, einzutreten in den Sängerolymp. Mich damit auch nur Verbindung zu bringen, bevor es jemand anders tat, wäre eine noch nie dagewesene Anmaßung gewesen. Und ich konnte ja schon stolz genug sein, überhaupt im Vorchor dieses Weltensembles mitmachen zu dürfen.

Unser Probenort war die Aula der Handelsschule Kellinghusenstraße. Sie war groß wie eine Turnhalle, also verdammt groß. Ganz gleich, wie weit wir unseren Stuhlkreis auch ausdehnten, es hätte immer noch mindestens ein zweiter hineingepasst. Groß war auch die alles umgebende Fensterbank, die vor Probenbeginn eine vorzügliche Sitz- und Liegegelegenheit darstellte. So störte sich niemand ernsthaft daran, dass Parkett und Stühle auch schon bessere Tage gesehen hatten.

Am Anfang der Probe wurden wir wie in der Schule stets gefragt, was wir denn in der vergangenen Woche so erlebt hatten und wie in der Schule wusste ich auf diese Frage niemals eine Antwort. Nicht so José Ricardo, den Frau Siebenkittel schon alleine deswegen schätzte, weil man seinen Namen so schön mit sängerisch gerolltem R aussprechen konnte.

«Ey, diese Woche habe ich wieder bei zwei Unfällen dabeigestanden. Bei einem hat eine Frau ihren Kopf verloren und ich habe den so in die Hand genommen.»

Wir glaubten ihm nicht im Geringsten, doch Frau Siebenkittel saß mit weitaufgerissenen Augen da und sog jedes seiner Worte in sich hinein.

Hatten dann alle ihre Geschichten erzählt, war eine ganz spezielle Form der Anwesenheitskontrolle dran: Das Echo. Frau Siebenkittel sang der Reihe nach jedem eine Melodie vor, die derjenige auf das Wort «Ja» nachzusingen hatte. Es sei denn, er war nicht da, dann schmetterten wir alle gemeinsam: «Nei-ein». Auf mein Flehen und Betteln und wegen herausragender gesanglicher Leistungen bekam ich fast immer ein schweres Echo. Das ging dann etwa so:

music snippet

Eine fürwahr tückische Etüde, denn man durfte sich auf keinen Fall dazu verleiten lassen «Ja-ha-ha» zu singen.

Endlich ging es an die Lieder. Mein erstes war «Ich bin der junge Hirtenknab’» gewesen, doch das war schnell aus der Mode geraten. Meist sangen wir «Ein Jäger längs dem Weiher ging», «Es sitzen drei kleine Eulen» oder «Fing mir eine Mücke heut».

Aller Welt Liebling war aber «Eins will ich singen! Grün, grüner Haselstrauch!». Es handelte von Zahlen und den Dingen, mit denen sie für gewöhnlich in Zusammenhang gebracht wurden. Zwei für den Tag und die Nacht, vier für die Jahreszeiten und so weiter, also.

In den ersten Wochen waren wir immer nur bis zur Fünf gekommen. Frau Siebenkittel hatte aber bereits in Aussicht gestellt, dass wir schon bald bis zur Sieben vordringen würden. Für mich hatte völlig außer Frage gestanden, dass es sieben für die Tage in der Woche heißen würde. Das war ja nun wirklich das allererste, was einem zur Zahl Sieben einfiel.

Doch weit gefehlt, der Vers lautete: «Sieben für die Stern’ am Himmelswagen.» Das hatte mich schon ein wenig ärgerlich gemacht. Spitzfindiger ging es ja wohl kaum noch. Und dennoch: alles in allem bot das Lied immer wieder Anlass zur Freude – beim «Eins ist eins und war schon eins und wird’s auch immer bleiben» erklommen wir die Stühle. Dabei stellten wir uns vor, wie wir mit unseren Händen einen Turm bauten, der bis zur Decke ragte.

Zum Schluss war meistens Stopptanz an der Reihe. Wir liefen zu heiterem Geklimper im Raum umher und sollten abrupt stehen bleiben, sobald die Musik verstummte. Ehrensache, sich dann nach Möglichkeit gerade unter einem der großen Vorhänge verkrochen zu haben, um sich heimlich doch weiter bewegen zu können.

Nach einigen Monaten erfuhr meine Begeisterung dann einen kleinen Dämpfer. Wir zogen um nach Finkenwerder, ein Stadtteil, der auf einer Insel inmitten der Elbe lag. Ich musste jetzt mit der Fähre zum Chor fahren, dem langweiligsten Verkehrsmittel seit Menschengedenken. Eine halbe Stunde dauerte das elende Getucker jedes Mal. Hätte ich übers Wasser laufen können, ich wäre zu Fuß schneller gewesen. Und dann gab es noch nicht einmal ein paar moderne Schiffstypen, auf die man hoffen konnte. Nur alte, uralte und noch viel ältere. Jedenfalls sahen sie alle alt und abgewrackt aus mit ihrem durchfallbraun gepolsterten, quadratisch geformten Gestühl.

Meiner Gesangsleistung tat das keinen Abbruch. Im Gegenteil: Ich war bald der lauteste und der, der völlig selbstverständlich immer die schwersten Echos bekam. Nach der letzten Probe vor den Sommerferien war es dann soweit. Frau Siebenkittel bestellte mich zu sich, um mich etwas zu fragen.

«Hey, Lenni-Löwe, würdest Du das gut finden, nach den Ferien im Hauptchor mitzusingen?»

Was war das denn für eine Frage? Hätten Sie mir das gestern schon gesagt, ich wäre doch heute gar nicht mehr hergekommen! Wer brauchte schon diesen unwürdigen Haufen hier, wenn er im Hauptchor mitsingen durfte?

Ich nickte und ahnte dabei nicht, dass meine Karriere gerade erst begonnen hatte.