Auf heiligem Boden
Perlen von Holstein Folge 14
Februar 1998
Der Januar war ein ausgesprochen entspannter Monat gewesen: Kein einziger Termin hatte im Chorplan gestanden. Wir hatten die Zeit genutzt, um unsere Noten- und Textkenntnisse in Exsultate Deo und Salve Regina ein wenig aufzufrischen. Unsere Chorleiterin, davon keineswegs ausgelastet, hatte uns darüber hinaus ein Rätsel aufgetragen.
Mit geheimnisvoller Miene waren wir von ihr in der ersten Probe nach den Ferien empfangen worden.
«Ja, wisst ihr, es gibt da so einen Jungen namens Hugo und wie ihr alle mag der manche Sachen und andere überhaupt nicht und ich möchte, dass ihr mir sagt, was die Sachen gemeinsam haben, die der Hugo mag und wer es als erstes errät, der kriegt von mir einen kleinen Preis. Also Hugo mag zum Beispiel Stress, er mag aber auch Entspannung. Er mag Spaghetti, aber er mag keine Nudeln.»
«Aber Spaghetti sind doch Nudeln, Frau Siebenkittel!»
Die Miene unserer Chorleiterin war noch geheimnisvoller geworden.
«Ja-a, trotzdem mag Hugo sie nicht.»
Daraufhin war es still geworden. Niemand hatte eine Erklärung gehabt.
Auch jetzt im Februar war das Rätsel trotz zahlreicher Fingerzeige noch immer ungelöst. Dabei waren die ruhigen Zeiten vorbei: Wir hatten wieder ein Konzert. Nun ja, eigentlich war es eher ein kleiner Auftritt, aber einer, der an einem ganz besonderen Ort stattfinden sollte: Einem Tempel.
Was das war, wusste ich aus der Zeichentrickserie Montana. Ein Tempel war ein bestimmt tausend Jahre altes, überwuchertes Gebäude, das weit abgelegen im Wald oder in der Wüste herumstand. In seinem Inneren war meist ein Schatz versteckt. An ihn heranzukommen aber war gar nicht so einfach, überall lauerten tödliche Fallen.
Der Tempel, in dem wir singen sollten, war freilich nicht ganz so spektakulär. Er befand sich nicht ein einem dichten Dschungel, sondern nur einen Steinwurf vom Bahnhof Dammtor entfernt. Er gehörte auch nicht den Ägyptern oder Maya, sondern irgendwelchen Dachdeckern.
Oder waren es Zimmermänner gewesen?
Ich konnte es nicht sagen, meine Mutter hatte sich da nicht ganz klar ausgedrückt. Sie hatte lediglich erklärt, dass sie und die anderen Eltern nicht mit hineingehen durften. Die Dachdecker oder Zimmermänner wollten das nicht.
Ich dachte mir nichts dabei. So ein Tempel war schließlich eine heilige Stätte und durfte als solche nur von ganz besonderen Menschen betreten werden.
Als meine Mutter und ich beim Tempel ankamen, tummelten sich bereits einige Knaben auf der Treppe vorm Eingang. Zwischen ihnen stand ein fremder Mann. Er stellte sich als derjenige vor, der die jungen Sänger gleich hinein begleiten würde. Es handelte sich bei ihm offenbar um einen der Dachdecker oder Zimmermänner, auch wenn er ganz und gar nicht da nach aussah: Er war untersetzt und trug einen Anzug. Auf mich wirkte er eher wie ein Geschäftsmann als wie ein Handwerker.
Aber vielleicht hatte er sich für unseren Auftritt ja nur fein herausgeputzt.
Im Inneren des Tempels angelangt, erfuhr ich endlich, welchem Beruf er und seine Kollegen denn nun eigentlich nachgingen. Maurer war er. Freimaurer, genauer gesagt. Was sie dann den ganzen Tag trieben hier, in diesem komplett fertigen Gebäude, bedurfte natürlich einer Erklärung.
«Wir sind eine Vereinigung, die sich ein besseres Miteinander zwischen den Menschen zur Aufgabe gemacht hat und die es schon ganz lange gibt, über zweihundert Jahre nämlich.»
Ein besseres Miteinander zwischen den Menschen, aha. So eine Art Hilfsorganisation war das hier also, sowas wie UNICEF.
Ich musste an den Brief denken, den ich neulich auf dem Boden vor unserem Klassenraum gefunden hatte. Er hatte aus dem Jahr 1996 gestammt, einem Schaltjahr, in dem der Februar neunundzwanzig Tage gehabt hatte. Vom ‹geschenkten Tag› war darin die Rede gewesen, den wir zum Anlass nehmen sollten, ‹möglichst viel Geld für Kinder in Not zu sammeln›.
Eine reichlich an den Haaren herbeigezogene Schlussfolgerung, wie ich fand. Der 29. Februar wurde uns ja nun nicht geschenkt. Den gab es, weil die Erde eben etwas länger als 365 Tage brauchte, um die Sonne zu umkreisen. Aber meine Mutter hatte sowieso einmal gesagt, dass solchen Hilfsorganisationen nicht zu trauen war. Viel von den Spendengeldern bekamen die Kinder in Afrika nämlich nie zu Gesicht, das wurde für die Verwaltung ausgegeben.
Eine Viertelstunde redete der Mann. Zeit zum Proben blieb da nicht viel. Frau Siebenkittel musste sich auf ein kurzes Einsingen beschränken. Bevor wir einzogen, gab sie uns noch einige nützliche Hinweise mit auf den Weg: «Also Hugo mag Wasser, er mag auch Schwimmen, nur Baden mag er nicht so.»
Ich verwunderte mich der Rede. Wie konnte man denn Wasser mögen, aber kein Baden? Das ergab doch alles keinen Sinn.
Der Raum, in dem wir auftraten, war im Grunde eine fensterlose Kirche in Schuhkartonform. Es gab eine Art Altar, eine stattliche Anzahl Kerzen und ansonsten Stuhlreihen. Wir selbst saßen auf einer winzigen Empore. Es war wirklich wie im Gottesdienst.
Das galt auch für die Veranstaltung. Wir hatten gerade einmal drei Stücke zu singen, ansonsten wurde geredet, lange und ausschweifend geredet.
Ich merkte, wie meine Augenlider schwerer und schwerer wurden. Und je schwerer sie wurden, desto breiter erschien mir die Brüstung der Empore. Eine ganze U-Bahn würde jetzt auf ihr Platz finden, ach was, ein Containerschiff!
Containerschiffe waren toll. Fuhr man mit der Fähre an einem vorbei, fing es mächtig an zu schaukeln. Mein großer Bruder und ich liebten das, obwohl man natürlich ganz schön aufpassen musste, sich nicht den Kopf zu stoßen. Trotzdem war es schön, dass auch auf der Fähre hin und wieder etwas Spannendes passierte. Spannend wie ein Abenteuer in einem – Tempel.
Ich schreckte hoch.
Oh, Mann, Lenni-Löwe! Jetzt wärst du um ein Haar bei einem Chorauftritt eingeschlafen!