Der Ausnahmezustand
Perlen von Holstein Folge 18
Ich erwachte davon, dass die Sonne durch die Vorhänge schien. David schlief noch immer tief und fest. Bis zur allgemeinen Weckzeit würde noch eine halbe Stunde vergehen. Das wusste ich zwar nicht mit Sicherheit, denn wie üblich hatte ich keine Uhr dabei. Doch erwachte ich in Jugendherbergen zuverlässig eine halbe Stunde, bevor wir geweckt wurden.
Ich blieb liegen und starrte an die Zimmerdecke. Langsam kehrten die Erinnerungen an die vergangene Nacht zurück. Es war kein Holzbrett gekommen, niemand hatte mich ermordet.
Jetzt, wo es hell war, glaubte ich auch nicht mehr, dass das heute, morgen oder irgendwann anders noch einmal passieren würde. Die Stunden, die ich wachgelegen hatte, kamen mir so rückblickend betrachtet irgendwie ziemlich kurz vor. Aber so war das mit schrecklichen Dingen: Wenn sie einmal vorbei waren, erschienen sie einem klein und ungefährlich.
Wir waren nach Stelle gekommen, um uns auf den Chorwettbewerb vorzubereiten. Nicht auf irgendeinen Chorwettbewerb, natürlich, auf den Deutschen Chorwettbewerb.
Beim Landesausscheid in Hamburg hatten wir alle in die Tasche gesteckt. Das würden wir beim Bundeswettbewerb in Regensburg wiederholen. Wir waren die Besten, uns machte keiner etwas vor! Na gut, die Thomaner vielleicht, aber die waren ein Profichor und zur Teilnahme nicht zugelassen. Alle anderen aber würden wissen, dass sie keine Chance gegen uns hatten. Spätestens, wenn sie uns gehört hätten!
Schon beim frühmorgendlichen Einsingen konnte ich wieder einmal nur staunen über die Schönheit unseres Klanges. Wenn wir summten und Frau Siebenkittel spielte auf dem Klavier dazu, das konnte man doch im Grunde aufnehmen und als CD verkaufen. Der Neue Knabenchor Hamburg singt sich ein. Ja, das wäre doch mal was.
Daran, dass unsere Chorleiterin notorisch anderer Meinung war, hatte ich mich inzwischen gewöhnt. Mehr oder weniger, zumindest. Und so glaubte ich, dass alles normal wäre. Bis der Abend kam.
Völlig unvermittelt und in nie dagewesener Weise verlor Frau Siebenkittel die Beherrschung: «Ich häng’ meinen Beruf an den Nagel!»
Sie machte eine heftige Bewegung, unverkennbar ein neuer Einsatz. Auch der verlief jedoch nicht zu ihrer Zufriedenheit.
«Leute, sowas könnt ihr mir nicht anbieten!»
Die folgende halbe Stunde sollte mir als eine einzige Tortur in Erinnerung bleiben. Wie sehr wir uns auch mühten, nichts vermochte unsere Chorleiterin zufriedenzustellen. Meist würgte sie uns schon ab, bevor wir einen Ton gesungen hatten.
«Ihr wisst, dass wir damit keinen Blumentopf gewinnen können!», sagte sie schließlich. Die letzte Probe des Tages war vorbei. Frau Siebenkittel jedoch war noch lange nicht mit uns fertig. Sie wünschte uns alle noch einmal im Eingangsbereich des Bettenhauses zu sprechen.
Dort gelang es ihr zunächst, die Fassung zu bewahren.
«Also, die Neuen hören jetzt mal bitte kurz weg, die betrifft das nämlich nicht», sagte sie. Dann aber gab es für sie kein Halten mehr. Minutenlang schimpfe sie auf uns ein. Ich wäre am liebsten weggerannt, doch nicht einmal das traute ich mich. Noch nie hatte ich unsere Chorleiterin so wütend erlebt.
Sie schloss mit den Worten: «Ich komm’ mir hier vor wie im Wald!» Dann stürmte sie heraus, schleuderte die Tür hinter sich zu und verschwand in die Nacht.
Die älteren Knaben brachen in schallendes Gelächter aus.
«Alter, jetzt hätte noch mal voll die Scheibe aus der Tür fliegen sollen!»
«‹Ich komm mir hier vor wie im Wald›, haha. Wir sind im Wald!»
Mir hingegen liefen die Tränen herunter. Vinzent fand das urkomisch. Er stimmte an zum Spottgesang.
Zu meinem Glück stimmte aber keiner mit ein. Das hätte mir wirklich gerade noch gefehlt.
In dieser Nacht schlief ich gut. Nach dem Mittagessen hatte mich David noch mit dem Namen einer weiteren Gruselgeschichte durch das Haus gejagt, jetzt aber war er friedlich. Wir unterhielten uns über Paris und den Eiffelturm. Nach wenigen Minuten war ich eingeschlafen.
Das war auch nur gut so, denn auch wenn Frau Siebenkittel sich am nächsten Tag merklich beruhigt hatte: In der Sache blieb sie hart. Vom Frühstück bis zum Mittagessen probten wir ohne Unterbrechung. Für mich und drei weitere Knaben fiel sogar die Mittagspause aus. Frau Siebenkittel war der Meinung, mit uns noch einmal Salve Regina üben zu müssen, was nun wirklich albern war. Ich konnte das Stück doch längst auswendig.
Und dann ritt unsere Chorleiterin auch noch unablässig auf der blödesten Stelle herum: «Ostende, ostende, ostende! O cle-emens, o pi-ia» Wobei Clemens und Pia interessanterweise keine Personen waren. Der Übersetzung zufolge sollte das heißen: ‹Oh gütige, oh milde›. Laut der war mit Regina übrigens auch nicht Regina Regenbogen, sondern Himmelskönigin gemeint.
Keiner von uns bekam mit, was sich in diesen Minuten ereignete.
Die anderen Knaben spielten Räuber und Gendarm. Einer, der soweit ich wusste Sebastian hieß, den aber alle nur Affe nannten, geriet in Gefangenschaft. Er wurde in ein Zimmer im ersten Stock gebracht und dort eingesperrt. Eine Situation, mit der er sich nicht abfinden mochte. Er öffnete ein Fenster und sprang. Wie durch ein Wunder blieb er unverletzt. Er rappelte sich auf, rannte los und krachte mit dem Kopf gegen einen Baum.
Ich sollte nie erfahren, was er sich dabei zuzog, jedenfalls verschwand er für längere Zeit. Einmal sollte er noch zur Probe erscheinen. Sein kahlrasierter Schädel war von einer Mütze bedeckt. Danach ist er nie wieder aufgetaucht.
Ich hatte nicht viel mit ihm zu tun gehabt, denn er war bestimmt zwei Jahre älter als ich gewesen. Trotzdem hatte ich ihn gemocht. Seinen Spitznamen hatte er nämlich nicht zu Unrecht getragen. Einmal hatte er sich in der Probe zu mir gesetzt und mit glockigem Sopran gesagt: «Furz!». Wieder und wieder.
Ich hätte mir vor Kichern beinahe den Kopf an der Stuhlkante aufgeschlagen. So lustig war sonst nur mein großer Bruder, wenn wir beim Kindermalkurs in der Hamburger Kunsthalle waren. Dort hatten sie einmal Gipsfiguren ausgestellt. Eine von ihnen mit Namen Die große Stille war mehr lang als breit und überdies rund gewesen. Für meinen Bruder eine Steilvorlage: «Die große Stille, der lange Schwanz» Wieder und wieder hatte er es gesagt. Und ich, ich hatte wieder und wieder gelacht. Dabei hatten mich schon davor fürchterliche Bauchschmerzen geplagt.
Es sollte meinem Vater und mir erspart bleiben, noch einmal durch Traktorspuren laufen zu müssen. Davids Eltern nahmen uns mit. Das war schön und schrecklich zugleich, denn so war ich dem ausgesetzt, was im Autoradio lief. Und sie spielten Guildo hat euch lieb.
«Ich denk’ gern zurück – an die Zeit voll Harmonie und Glück – als ich täglich in ein Poesiealbum schrieb: Piep, piep, piep, ich hab’ dich lieb!»
Ich fand dieses Lied einfach furchtbar. Ja, früher waren alle Menschen höflicher und die Kinder besser erzogen gewesen. Ich es begriffen. Man bekam das von alten Leuten ja beileibe oft genug zu hören. Reichte das nicht? Musste das auch noch fünf bis acht Mal am Tag aus irgendeinem Lautsprecher kommen? Und dann sang David auch noch begeistert mit.
«Ey, nein, ich hasse das Lied!», sagte ich.
«Alter, das ist cool, das ist voll in grad, Mann», erwiderte David.
«Magst du Sachen, die in sind?»
«Ja, klar, Mann! Du etwa nicht?»
Nein! Ich hatte mir kein Tamagotchi gekauft, nie einen einzigen Cap besessen und ich würde mir auch kein Jo-Jo anschaffen, nur weil das jetzt in war. Ich sah überhaupt keinen Sinn darin, mir Dinge zu kaufen, die völlig überteuert waren und mit denen zu spielen mir keinen Spaß machte. Nicht so offenbar David.
«Du magst bestimmt auch Männer sind Schweine», seufzte ich.
«Klar, Mann!», entgegnete David und grölte los: «Hallo, mein Schatz, ich liebe dich, du bist die Einzige für mich –»
Das hatte mir wirklich gerade noch gefehlt. Wenn es ein Lied gab, das ich auf den Tod nicht ausstehen konnte, dann dieses. Was hieß denn hier bitte Männer sind Schweine? Wenn wer doof war, dann waren das ja wohl Frauen oder Mädchen. Aber der Text war sowieso ziemlich sonderbar, alleine schon: «Männer sind Autos nur ohne Reserverad.» Was bitte sollte das heißen? Oder: «Ein Mann fühlt sich erst dann als Mann, wenn er es dir besorgen kann.» Was besorgen? Ein Haus, ein Auto, ein Boot?
Ich konnte von Glück reden, dass die Strecke von Stelle nach Hamburg nicht sonderlich lange dauerte, wenn man mit dem Auto fuhr.