Der Domhardt
Perlen von Holstein Folge 19
Für meinen großen Bruder und mich ging es seit einiger Zeit jedes Wochenende weit hinaus. Wir fuhren zum Programmierkurs in Hamburg-Ohlsdorf. Darauf freuten wir uns immer die ganze Woche lang. Wegen des Programmierkurses. Und wegen Hamburg-Ohlsdorf. Das nämlich ist ein Stadtteil mit einem ganz eigenen Reiz: Direkt am S-Bahnhof befindet sich ein riesiger Friedhof, der größte Parkfriedhof der Welt. Was das mit sich bringt, kann sich jeder denken, der schon einmal Lucky Luke gesehen hat: Die komplette Straße befindet sich in der Hand von windigen Geschäftemachern. Steinmetze, Bestattungsunternehmer und Sarghändler haben sich hier niedergelassen. Für mich und meinen Bruder immer wieder ein Grund zum Lachen.
«Hahaha, hast du das gesehen? ‹Sargdepot›! Hahaha!»
Auch beim Chor bekam ich es seit einiger Zeit regelmäßig mit dem Tod zu tun. Für den Chorwettbewerb nämlich hatten wir ein ganz besonderes Stück einstudiert. Eigentlich hieß es NachtGedanken, wir aber nannten es nur ehrfurchtsvoll den Domhardt. Domhardt, wie der Mann, der es komponiert hatte: Gerd Domhardt. Er hatte es speziell für unseren Chor verfasst. Damit war er aber nicht fertig geworden, die handgeschriebenen Noten hörten irgendwann einfach auf. Herr Domhardt war gestorben. Das war völlig unerwartet geschehen und doch wollte man glauben, dass er etwas geahnt hatte. Der Domhardt nämlich handelte vom Sterben.
Es war für mich nicht das erste Mal, dass ein Lied vom Tod handelte. Auf einer meiner Kinderkassetten hatte ein Junge seinen verstorbenen Opa besungen. Das hatte ich aber erst vor Kurzem begriffen. Der Junge nämlich hatte nie offen ausgesprochen, dass sein Opa tot war, er hatte immer nur gesungen: «Opa, Opa, bist so weit weg und doch so nah». Ich hatte «bist so weit weg im Dochsona» verstanden und mich gefragt, was das wohl sein mochte, dieses Dochsona. Ich hatte meinen Vater gefragt, der hatte mir aber auch keine schlüssige Antwort geben können.
«Das ist nicht wörtlich gemeint, Lennart, damit will er sagen, dass er immer an seinen Opa denken wird.»
«Ja, aber was ist ein denn jetzt ein Dochsona?»
Der Domhardt handelte unmissverständlich vom Tod. Das galt nicht nur für den Text, sondern vor allem auch für die Musik. Von meinem Vater hatte ich bereits vorher gewusst, dass moderne Klassik nicht schön klang wie die von Mozart oder Beethoven, sondern häufig sogar ziemlich schrecklich. Das galt für den Domhardt in besonderem Maße. Es gab Flüstergesänge, Sprechgesänge und furchterregendes Gejaule. Und auch die Stellen, an denen wir normale Töne zu singen hatten, waren nicht gerade beruhigend.
Der Anfang ging so: «Bleib bei uns! Bleib bei uns! Denn es will Abend werden!» Für mich klang das wie der verzweifelte Hilfeschrei eines Mannes, den man in einem unheimlichen alten Haus zurückgelassen hatte. Er bekam schreckliche Angst. Angst davor, alleine zu sein, jetzt, wo es dunkel geworden ist. Angst vor dem, was dort draußen oder im Keller auf ihn lauern könnte. Angst davor, dass das Feuer im Kamin für immer ausgeht.
Noch viel gruseliger war aber die Stelle, an der es hieß: «Wohin du stürzt, o Seele, nicht weiß es die Nacht, denn da ist nichts als vieler Wesen stumme Angst» Ja, wohin wir eigentlich kommen, wenn wir sterben, das konnte niemand sagen, aber Herr Domhardt schien zumindest eine Ahnung zu haben. Was meinte er mit vielen Wesen? Kobolde? Zwerge? Riesen? Vermutlich. Ich sah sie gemeinsam um ein Lagerfeuer sitzen in einem Wald, in dem immer Gefahr drohte und in dem es niemals Tag war. Ja, so musste es aussehen im Reich der Toten.
Frau Siebenkittel versuchte, uns unsere Angst vor diesen Klängen ein wenig zu nehmen. «Wisst ihr, woran ich bei ‹Schlaf, süßer Schlaf› immer denken muss? Wir hatten bis vor Kurzem eine Katze und die war schon ganz unglaublich alt, zwanzig Jahre. Und die konnte schon nicht mehr richtig gehen und überhaupt nicht mehr Treppen steigen. Und wir hatten immer ganz doll Mitleid mit der, weil, man hat einfach gesehen: Die hat ganz schlimme Schmerzen. Und irgendwann hat sie sich dann schlafen gelegt und ist nicht wieder aufgewacht. Und auch wenn wir natürlich traurig waren, waren wir ganz froh darüber, denn wir wussten, dass sie ganz sanft gestorben ist.»
Ein Knabe, der etwa in meinem Alter war, kam einmal nach einer Probe zu mir, um mir eine bemerkenswerte Frage zu stellen: «Du, Lenni-Löwe, willst du eigentlich lieber im Schlaf sterben, oder wenn du wach bist?»
«Im Schlaf natürlich!», antwortete ich. Das wollte doch wohl jeder.
«Wieso? Glaubst du, dass du dann keine Schmerzen hast?»
«Ja, im Schlaf merkt man doch nichts.»
«Aber woher willst du denn wissen, dass man dann auch nichts merkt? Das weiß doch keiner, ob man dann nichts merkt. Jemand, der im Schlaf gestorben ist, kann dir das ja nicht mehr sagen.»
Das war ein Einwand, über den ich erst einmal nachdenken musste.