Lost in Minga
Perlen von Holstein Folge 35
Nicht nur die Schmach von Tabea, auch die von Albertinen würde ich endlich wiedergutmachen können. Auf dem Parkplatz dieses unseligen Altersheims hatte Frau Siebenkittel mir damals mitgeteilt, dass ich nicht mit nach München kommen würde. Eine Idee, auf die sie nach Regensburg und Israel nicht mehr kam, so sehr wie ich dort mit Reife geglänzt hatte. Und so stieg ich zwei Monate nach meiner ersten Reise mit dem Flugzeug erneut in eine Maschine der Lufthansa. Der Flug ging schnell, jedenfalls dauerte er nicht so lange wie die anschließende Busfahrt zu unserer Jugendherberge. Sie lag weit abgelegen in einem Wald. Die Inneneinrichtung ließ nur den Schluss zu, in einer bayerischen Version von Maschen gelandet zu sein. Siebzig-Mark-Frühstück und Drei-Sterne-Hotel gab es offenbar auch hier nur beim Chorwettbewerb.
Da wir nur wenige Tage in München verweilen sollten, war alles etwas straffer organisiert als bei meinen bisherigen Chorreisen. Nach dem Frühstück hatten wir eine Probe, dann fuhren wir in die Stadt.
Wir wurden bei einem Platz herausgelassen. An einer seiner Seiten stand die Kirche, in der wir morgen Abend unseren einzigen Auftritt hier haben würden. St. Michael hieß sie. Ich fand das bemerkenswert. Der Michel wurde auf Plakaten auch immer so genannt. Das war aber wohl ein Zufall, denn ansonsten hatte sie nichts mit ihm gemein. Sie sah eigentlich gar nicht aus wie eine Kirche, eher wie in Haus. Wie ein Haus in Lüneburg, um genau zu sein, wenn auch größer und prachtvoll verziert. Über den Türen und zwischen den einzelnen Stockwerk ragten große Gesimse hervor und das Dach wurde vom Giebel überdeckt. Zwischen den Fenstern standen Statuen in eigens für sie eingehauenen Unterschlüpfen.
Neben den zwei großen Türen hingen unsere Plakate. Sie sahen genauso aus wie in Hamburg, doch es gab einen kleinen Unterschied: Hier in München wollte nicht die Hamburger Sparkasse mit uns Werbung machen, sondern Galeria Kaufhof. Kaufhof, das gab es bei uns in Hamburg auch, das war sowas wie Karstadt, nur dass es eben anders hieß und vermutlich davon nachgemacht war. Was nun dieses Galeria zu bedeuten hatte, erschloss sich mir nicht, doch hatte es wohl nicht zu sagen. Die Aldis hier hatten auch ein völlig anderes Logo und sahen von innen genau gleich aus.
Die Kirche und das Plakat faszinierten mich dermaßen, dass ich nur sehr am Rande wahrnahm, dass wir wieder einmal in Patengruppen eingeteilt wurden. Als Marc dann fragte, ob nun jeder weiß, mit wem er zusammen ist, durchfuhr mich ein Schreck. Nein, das wusste ich nicht, das hatte ich wohl irgendwie nicht mitbekommen. Doch mich jetzt zu melden und mal wieder der Doofe zu sein, das kam überhaupt nicht in Frage. Diejenigen, mit denen ich zusammen war, wussten bestimmt Bescheid. Nicht lange und man würde nach mir rufen.
Ich sagte also nichts und wartete. Die Gruppen entfernten sich jedoch nicht nach und nach, sondern rannten gleichzeitig in alle Himmelsrichtungen davon. Niemand schien zu bemerken, dass ich zurückblieb. Ehe ich mich versah, stand ich mutterseelenallein auf diesem fremden Marktplatz.
Verzweifelt blickte ich mich um. Nur eine Gruppe war noch in Sichtweite: Eine, die nur aus Männern bestand. Sie würden mich ganz bestimmt nicht bei sich haben wollen, doch was sollte ich machen? Ich überlegte nicht lange, sondern rannte los.
Als ich sie beinahe eingeholt hatte, drosselte ich das Tempo. Wenn ich ein paar Meter Abstand zu ihnen hielte, vielleicht bemerkten sie mich ja gar nicht. Dann würde ich stumm hinter ihnen her trotten können, ohne ihren Ärger auf mich zu ziehen. Genau, das war die Lösung. Natürlich, wenn sie irgendwo reingingen, wo man Eintritt bezahlen musste, wäre ich aufgeschmissen. Ich hatte kein Geld bei mir. Wenn ich nur wüsste, wo sie überhaupt hinwollten.
Sie selbst schienen es ganz genau zu wissen. Eine Gasse nach der anderen durchquerten sie, ohne jemals stehen zu bleiben und sich umzublicken. Offenbar kannten sie sich in dieser Fremde sehr gut aus. Schließlich drehten sie sich zur Seite und steuerten auf eine Durchfahrt zu, hinter der sich in einem Innenhof ein Biergarten befand. Es war soweit, jetzt hatte ich die Wahl, von ihnen bemerkt zu werden oder sie zu verlieren. Unschlüssig blieb ich stehen.
«Was ist denn, Lenni-Löwe? Willst du gar nicht mit reinkommen?», sagte einer der Männer plötzlich. Sie hatten also längst gemerkt, dass ich da war. «Na komm, da drin gibt’s lecker Weißwurst! Das willst du dir doch nicht entgehen lassen, oder?»
Es schien ihm überhaupt nicht in den Sinn zu kommen, dass ich mir das gar nicht leisten konnte. Ich kam also mit rein und ließ es mir schmecken, wohlwissend, dass ich ins offene Messer rannte. Zu meinem großen Erstaunen fragte mich aber am Ende keiner nach meinem Portemonnaie. Stattdessen klopfte mir einer der Männer auf den Rücken.
«Na, Lenni-Löwe, hat’s geschmeckt?»
Ich nickte.
«Na, das ist doch klasse! Komm, wir müssen uns beeilen, wir sind ein bisschen hinter der Zeit.»
Am Abend waren wir wieder mit dem ganzen Chor unterwegs. Wir überquerten einen Platz mit einem großen Springbrunnen, wie es sie hier irgendwie zu Hauf zu geben schien. Die Patengruppen waren aufgelöst worden, jeder konnte selbst aussuchen, neben wem er schlendern wollte. Ich hatte mich für Vinzent, David, Imanuel und Christopher entschieden. Wo es hinging, hatte man uns nicht gesagt, beziehungsweise doch, hatte man möglicherweise schon. Wir hatten es nur nicht mitbekommen. Es gab da nämlich so ein paar Dinge, über man jetzt einfach mal sprechen musste.
«Ey», erzählte Vinzent, «ich war neulich mal vor der Probe bei Brinkmann, da standen solche Computer mit so ’nem timotischen Malprogramm. Wenn du da die Maus auf irgendwas bewegt hast, kam immer so eine Mädchenstimme, so: ‹Mixer – Pinsel – Bombe –›»
«Ach, du meinst die Malbox vom Junior Schreibstudio», erwiderte ich, «das haben wir auch, das ist so lustig: ‹Mixer: Ändere dein Bild so richtig cool!› oder ‹Bombe: Lege eine Bombe und lösche damit das ganze Bild.›»
Vinzent kicherte: «Ja, und mit dem Pinsel kannst du das so total timotische Sachen machen, so mit einem Mausklick ganze Bäume malen. Und wenn du das machst, macht das immer so: Buff! Buff! Buff! Voll wie so ’ne Knarre, ey: Buff! Buff! Buff!»
Durch abendliches Getümmel hindurch gelangten wir zu einer Treppe, die in einen Fußgängertunnel führte. Als wir wieder den Himmel über uns sahen, fanden wir uns auf dem Bahnsteig einer Straßenbahnhaltestelle wieder. Sie lag inmitten einer vierspurigen Straße und war reichlich beengt. Der ideale Ort um die Situation zu bemerken, in die wir vier geraten waren.
«Ey, Alter, wo sind eigentlich die anderen?», fragte David.
«Keine Ahnung, vielleicht sind die mit der Straßenbahn weggefahren», entgegnete Imanuel. Eine Theorie, die nicht nur bei näherer Betrachtung ziemlich unhaltbar war. Doch eine gescheitere hatte von uns auch niemand parat.
Christopher vergaß sich dennoch. «Ey, jetzt laber’ keine Scheiße, Mann! Frau Siebenkittel und Totto hätten dann doch geguckt, ob alle da sind», schimpfte er, «Boah, Scheiße, Mann, das kann doch nicht sein, wir sind denen doch die ganze Zeit hinterhergegangen!»
«Naja, hast du denn die ganze Zeit geguckt, ob die wirklich noch vor uns sind?», fragte Vinzent.
Dazu fiel Christopher nichts ein.
Nach kurzer Beratung entschieden wir, zurück zu dem Platz mit dem großen Springbrunnen zu gehen. Vielleicht waren die anderen ja dort irgendwo stehengeblieben, ohne dass wir es gemerkt hatten. Einfach so verschwunden sein konnten sie jedenfalls nicht.
Während wir den Fußgängertunnel durchquerten, merkte ich, dass mich die ganze Angelegenheit kein bisschen ängstigte. Wir waren schließlich zu viert und keine kleinen Kinder mehr, sondern zehn Jahre alt. Was also sollte uns passieren?
«Jetzt bist du gea-a-arscht –», säuselte ich, «So richtig schö-ön gea-a-a-a-arscht! Jetzt bist du gea-a-arscht – So richtig schö-ön ge-a-a-a-arscht! Jetzt bist du gea-a-arscht –»
Vinzent hatte mich gelehrt, dass man durch ständige Wiederholung dieser Worte selbst den duldsamsten Menschen zur Weißglut treiben konnte. Ich hatte rasch Spaß daran entwickelt, sie immer wieder aufzusagen. Normalerweise waren sie an irgendjemanden gerichtet, dieses Mal jedoch nicht. Ich fand es einfach lustig, es immer wieder auszusprechen, dieses: «Jetzt bist du gea-a-arscht – So richtig schö-ön ge-a-a-a-arscht!»
Christopher schäumte.
«Ey, jetzt hör auf zu labern, Mann, du bist auch gearscht!», schrie er.
«Jetzt bist du gea-a-arscht –»
«Halt die Fresse, Mann, du bist selbst gearscht!»
«So richtig schö-ön ge-a-a-a-arscht!»
«Ey, du kriegst gleich derbe was auf die Fresse, wenn du nicht aufhörst!»
Welch ein himmlisches Vergnügen, ich hätte am liebsten laut losgelacht. Der Anblick des Gewimmels auf dem Platz aber ließ mich wieder zur Besinnung kommen. Hier war keiner vom Chor, das war sofort zu merken. Kinder waren hier außer uns keine, nur Erwachsene. Und die bewegten sich nicht wie welche von unserem Chor, sondern wie solche, denen man im Flughafen oder spätnachmittags in der S-Bahn begegnen konnte.
Es war wohl doch allmählich angebracht, es mit der Angst zu tun zu bekommen. Hilflos blickten wir uns um. Verdammt, wo konnten sie denn nur hin sein? So viele Möglichkeiten, diesen Platz zu betreten und ihn wieder zu verlassen, gab es doch gar nicht. Er hatte nur zwei offene Seiten.
«Los, lass mal dahinten jemanden fragen, ob er uns helfen kann», sagte Imanuel. Er deutete mit dem Finger auf den Brunnen.
Ein Vorschlag gegen den ich nichts einzuwenden hatte, sofern ich mich nicht aktiv an seiner Umsetzung beteiligen musste. Doch das musste ich nicht, Imanuel war bereits unterwegs. Ohne jedwede Scheu steuerte er auf eine Frau zu. Seine Besonnenheit war furchteinflößend.
Die Dame fackelte nicht lange, sondern zückte ein mobiles Telefon, ein Handy. Ein Gegenstand, den ich jahrelang fast ausschließlich in den Werbespots von E-Plus gesehen hatte. Dort liefen immer Menschen umher und fuchtelten wild mit den Armen. Alles um sie herum war schwarzweiß, nur das mobile Telefon in ihren Händen nicht, das war pastellgrün. Untermalt wurde das Ganze von einem einfach nur nervtötendem Geklimper. Ich fand das so bescheuert, dass ich schon vor langer Zeit beschlossen hatte, mir niemals ein solches Ding ins Haus zu holen. Die meisten Menschen schien es ähnlich gegangen zu sein, seit kurzem aber liefen immer mehr damit herum. So auch diese junge Dame. Das war mir aber zugegebenermaßen in dieser Situation ganz recht.
Es verging keine halbe Minute, da kam schon das erste Polizeiauto auf den Platz gefahren. Dann noch eins und noch eins. Jedes größer als das vorherige.
«Boah!», sagte Christopher.
Unser Traum, mit Blaulicht durch die Stadt zu düsen, zerplatze jedoch alsbald. Zwergo kam angerannt.
«Ach, hier seid ihr!»
Er dankte hastig der Frau und den Fahrern der Polizeiautos, zu denen sich mittlerweile auch noch ein VW-Bus gesellt hatte.
«Alter, da können wir den anderen was erzählen, so viele Bullen nur wegen uns!», sagte Christopher.
«Ja, und das dann am besten noch ein bisschen ausschmücken!», erwiderte ich.
«Genau, ey! Wir sagen, da kamen dann noch so drei Panzer und so, haha.»
Während Zwergo uns zusammentrieb und zu einem Restaurant führte, malten Christopher und ich uns immer gewaltigere Verbände aus, die unseretwegen aufmarschiert waren.
Alles war gut.