Die Grenze der Belastbarkeit
Perlen von Holstein Folge 50
Dezember 2000
Das Plakat am Unterstand der Bushaltestelle Alsterchaussee war ersetzt worden. Anstelle eines Jeeps hing dort nun ein Weihnachtsmann mit einem Kind auf dem Schoß. ‹Es weihnachtet sehr!›, stand darüber. ‹Elbe-Einkaufszentrum›, darunter.
Vor meinem inneren Auge sah ich den Chef des Elbe-Einkaufszentrums, wie er vor seinem Schreibtisch saß. Darauf ausgebreitet lagen Berge von Geld. Der Chef des Elbe-Einkaufszentrums rieb sich die Hände und sagte: «Ja-a, es weihnachtet sehr!»
Der Gedanke machte mich aggressiv. Schuld daran war aber nicht eigentlich das Plakat. Meinetwegen sollte der Chef des Elbe-Einkaufszentrum sich doch dumm und dämlich verdienen, solange er das Geld nicht nutzte, mir einen weiteren Termin aufzubürden.
Weihnachten war ja schon immer mit Stress verbunden gewesen. Was aber dieses Jahr geboten wurde, war eindeutig zu viel des Guten. Kein Tag verging, ohne dass wir irgendeine Klassenarbeit schreiben mussten. Eigentlich durften die Lehrer das nicht, eigentlich waren drei Mal pro Woche oberste Schmerzgrenze. Doch entweder umgingen sie die Regelung, indem sie Arbeiten zu Tests erklärten, oder aber sie behaupteten, dass das jetzt einfach nicht anders ginge.
Umgekehrt hatten sie sich vor Kurzem auf eine Nulltoleranzstrategie verschrieben. Früher hatte jeder Lehrer getrennt Buch über unerledigte Hausaufgaben geführt. Jetzt gab es dafür ein Zentralregister. Bei drei Versäumnissen bekamen wir einen Brief an die Eltern. Außerdem gab es jetzt für alle Fächer ein gemeinsames Zeitkonto. Waren durch Störungen zwanzig Unterrichtsminuten verloren gegangen, hieß es für alle: eine Stunde nachsitzen.
Man fragte sich, warum man uns gleich standardmäßig einmal die Woche länger dabehielt. Bei der Gelegenheit konnte man dann ja auch gleich jedem seinen Brief an die Eltern mitgeben. Noch interessanter war aber die Frage, wie ausgerechnet unser Deutschlehrer das Zeitkonto erfunden haben konnte. Der Mann war vermutlich in seinem ganzen Leben noch nie pünktlich gewesen. Immer mussten wir auf ihn warten. Und war er dann endlich eingetroffen, verbrachten wir eine geschlagene halbe Stunde mit seinen sogenannten Fünf-Minuten-Diktaten. Deren Inhalt war häufig irgendein Klatsch-Artikel der aktuellen Hamburger Morgenpost. So viel vergeudete Unterrichtszeit störte einer von uns ja nicht mal in einer Woche zusammen.
Da sehnte man sich doch nach den alten Grundschulzeiten zurück. Damals waren fast alle Fächer von einer Person unterrichtet worden: unserer Klassenlehrerin. Das hatte mit sich gebracht, dass wir den ganzen Vormittag lang immer nur den gleichen Macken ausgeliefert gewesen waren. Dafür waren die Klassenarbeiten wenigstens gleichmäßig auf das Jahr verteilt gewesen.
Zu den schulischen Aufgaben kam der Konzertplan und der hatte es in diesem Jahr wirklich in sich. In meiner Erinnerung war es einst eine Ausnahme gewesen, dass wir auch mittwochs und freitags einen Auftritt gehabt hatten. Mittlerweile war das beinahe schon der Normalfall.
All das blieb nicht ohne Folgen: Es war noch nicht einmal erster Advent und ich kroch schon auf dem Zahnfleisch. Ich bewunderte mich selbst dafür, dass ich überhaupt noch Zeit für meine Killerspiele fand. Aber man musste es sich eben nur einzuteilen wissen. Hausaufgaben machen und für Tests lernen konnte man ja auch noch morgens vor Unterrichtsbeginn.
Am Wochenende hatten wir unseren diesjährigen Auftritt in Tabea. Das kam mir nicht ganz ungelegen. Ein wenig heile Welt, garniert mit unserer Farbe, Freude und Festlichkeit, würde mir sicher mal gut tun. Der Nachmittag wartete dann sogar mit einer Überraschung auf.
Frau Siebenkittel wandte sich zum Publikum.
«So, nachdem Sie jetzt ein paar Stücke gehört haben, die wir jedes Jahr singen und die Sie immer wieder gerne hören, folgt nun etwas ganz Besonderes. Sie wissen ja, wir haben ein paar ganz tolle Solisten. Die meisten von denen sind schon etwas älter, denn natürlich muss sich die Stimme immer erst entwickeln und es kostet ja auch Mut, sich alleine nach vorne zu stellen und zu singen. Sie sind ja doch ein kritisches Publikum, oder?»
Die Zuhörer lachten.
«Aber jetzt», fuhr unsere Chorleiterin fort, «wird ein Knabe auftreten, der wirklich noch ganz klein ist, einer von den jüngsten, nämlich Georg. Der wird aber nicht für Sie singen, sondern Trompete spielen.»
Ich traute meinen Ohren nicht. Georg hatte das ganze Chorwochenende lang kaum ein Wort gesagt, vor allem hatte er mir nicht widersprochen. Er hatte mir nicht widersprochen, als ich mir einfach das untere Bett geschnappt hatte. Er hatte mir nicht widersprochen, als ich abends die Bettlampe angelassen hatte, um weiter meine Computer Bild Spiele zu lesen. Außerdem hatte er jede freie Minute außerhalb unseres Doppelzimmers verbracht.
Und so einer traute sich also, vor einem vollen Saal alleine Trompete zu spielen. Stille Wasser sind tief.
Über die Qualität seines Spiels konnte ich natürlich nichts sagen. Ich selbst spielte nicht Trompete und ich kannte auch niemanden, der es tat. Wir hatten lediglich mal eine Kassette gehabt, auf der ein blutiger Anfänger versucht hatte, einen Ton aus dem Instrument zu bekommen. Verglichen damit war Georgs Sound natürlich überragend. Außerdem traf er alle Töne. Das hatte man bei den von mir mitgestalteten Blockflötenabenden auch von deutlich älteren Schülern kaum je behaupten können. Mich eingeschlossen.
Georg erntete leuchtende Augen und einen kräftigen Applaus. Er verbeugte sich artig und ging zurück an seinen Platz. Er war trotz allem ein Freund der Zurückhaltung.
Das konnte man von gewissen anderen Leuten nun wahrlich nicht behaupten. Nach dem Weggang von Vinzent hatte Christopher seinen Platz eingenommen. Er war jetzt der oberste Favorit. Als solchem stand es ihm zu, das Solo des Tages zu bestreiten, das Mariä Wiegenlied.
Er tat es mit seligem Blick und Grübchen in den Wangen.
Der Applaus, den er dafür erntete, war erwartungsgemäß tosend. Einige Omas sahen aus, als würden sie ihre Unterwäsche auf die Bühne werfen wollen.
Und was machte dieser Bengel? Auch er verbeugte sich zunächst artig und wurde knallrot dabei. Als er sich dann aber zu uns umdrehte, grinste er blöd. Ich spürte ein unbändiges Verlangen, ihm seinen Digimon-Ball ins Gesicht zu schleudern.
Mein Zorn aus Christopher nahm weiter zu, als das erste Stück des Solochors an der Reihe war, Lieb Nachtigall, wach auf. Ich traute mich einfach nicht, gemeinsam mit den anderen aufzustehen und nach vorne zu kommen. Solochor-Stammsänger Marcus reagierte darauf mit dermaßen viel Unverständnis, dass beim Zu Bethlehem geboren die Angst, dieses erneut auf mich zu ziehen, deutlich überwog. Ich stand auf und ging mit den anderen mit, so unwohl ich mich auch dabei fühlte. Natürlich war mir klar, wie albern das war. Das Publikum vertraute uns schon, gerade hier in Tabea. Doch, nun ja, es konnte nicht jeder ein Christopher sein.
Oh, wie gerne wäre ich nach vorne gegangen und hätte hier, vor versammeltem Publikum seinen Digimon-Ball mit einer Nadel zerstochen. Man wollte Philipp fast dankbar dafür sein, dass es ihm heute wieder einmal gelang, allen die Show zu stehlen.
Frau Siebenkittel stillte wieder einmal den Durst der Zuhörer nach Anekdoten.
«Ja, wissen Sie, vor dem Konzert kam ein Knabe zu mir und fragt mich: ‹Du-u, Frau Siebenkittel, als die Maria damals durch den Dornwald ging, hatte die da keine Angst sich zu piken?›»
Jubel, Trubel, Heiterkeit im Zuschauerraum.
«Selten so gelacht!», sagte Philipp als es wieder still war. Sein Sarkasmus war triefend.
Dasselbe hatte ich auch gerade gedacht.