Aktion – Reaktion
Perlen von Holstein Folge 85
Mai 2003
Zwanzig Minuten konnten verdammt lange sein, selbst wenn sie streng genommen nur zehn Minuten waren. Zehn Minuten blieben von der großen Pause übrig, wenn man die Zeit abzog, die ich brauchte, um von der Klasse auf den Schulhof und wieder zurückzugelangen. Ich tat alles, um diesen Vorgang in die Länge zu ziehen: Packte meinen Rucksack möglichst langsam und schlich dann los. Jedes Mal hoffte ich, am Ende würden von der großen Pause nur noch acht, vielleicht sogar fünf Minuten übrig sein. Jedes Mal waren es genau zehn. Zehn Minuten, die jeder sehen konnte, dass ich so ein Mensch war, der keine Freunde hatte. Es gab auf unseren Schulhof keinen Ort, an dem man vor Blicken sicher war.
Ein Jahr lag ich nun mit meinen einst so getreuen Verbündeten im Streit. Sieben Monate davon war ich damit beschäftigt gewesen, mich abwechselnd ihrer Friedensdiktate zu widersetzen und daraus resultierende Strafmaßnahmen auszusitzen. Durch seine Dauer hatte der Konflikt schließlich die Aufmerksamkeit der Klassengemeinschaft auf sich gezogen. Ein Vermittlungsversuch hatte stattgefunden. Schnell war klar gewesen, was das Problem war: Ich wollte partout keinen Friedensschluss. Dafür musste es einen Grund geben. Also hatte man meine Kameraden gefragt: Was ist der Grund dafür, dass Lennart so sauer auf euch ist.
«Ja, also ich habe gesagt, dass Renegade, also so ein Computerspiel von ihm, Scheiße ist.»
In der Tat war der Konflikt so losgegangen: Man hatte mir vorschreiben wollen, was ich zu spielen habe. Es war aber nicht der Grund, dass ich ihn aufrechterhalten wollte. Noch mehr aber war es nicht das, was die Klassengemeinschaft verstand unter dem Satz: «Ja, also ich habe gesagt, dass Renegade, also so ein Computerspiel von ihm, Scheiße ist.» Und am allermeisten war es nicht das, was die Klassengemeinschaft verstehen wollte unter dem Satz: «Ja, also ich habe gesagt, dass Renegade, also so ein Computerspiel von ihm, Scheiße ist.»
Jemand war in theatralisches Gelächter ausgebrochen und hatte: «Babystreit!», geschrien. Dieser Deutung schloss sich der Rest der Klassengemeinschaft an. Babyhaft allerdings fand man nicht den Streit an sich, sondern nur die Sichtweise einer der beiden Konfliktparteien. Babyhaft fand man auch, dass diese Konfliktpartei die andere mied und ignorierte. Doch würde man mir dieses Verhalten schon aberziehen, indem man mich mit der Begründung, dass ich mied und ignorierte, mied und ignorierte. Natürlich vergaß man nie, mir zu signalisieren, wie ich diese für mich unangenehme Situation ganz schnell beenden konnte. Nötig war doch nur ein kleines bisschen Selbstverleugnung.
Auf dem Weg zur Probe begegnete ich als erstes Max-Frederick.
«Ey», sagte er, «bei mir in der Klasse ist einer, der ist so behindert, ey. Weißt du, ich mach’ so», er knuffte mir gegen die Schulter, «und der fängt gleich so derbe an, zu heulen, ey.»
Meine fünf Geschwister und ich hatten das früher oft gemacht: Einander gegen die Schulter geknufft, um zu demonstrieren, wie wenig kräftig man jemanden geschlagen hatte. Ich wusste: Man schlug natürlich weit weniger fest, als man es in Wirklichkeit getan hatte. Nicht, dass noch jemand auf die Idee kam, der kleine Bruder würde vielleicht zu Recht heulen.
Dennoch pflichtete ich Max-Frederick bei: «Man, ey, schwach, schwächer, am schwächsten.
Ich musste das sagen. Hätte ich anders reagiert, er würde womöglich bald dahinterkommen, dass ich selbst so einer war, mit dem in der Schule keiner etwas zu tun haben wollte. Und dann würde mich hier beim Chor wohl schon bald das gleiche Schicksal ereilen.
Max-Frederick schien zum Glück keinen Verdacht zu schöpfen. Er erzählte mir noch eine weitere Geschichte von dem Jungen.
Halbwegs sicher, dass ich hier auch weiterhin dazu gehörte, war ich aber erst mit dem Eintreffen Ulrichs.
«Na, spielst du auch immer schön GTA: Vice City?», sagte er.
«Ja, klar, Mann!», antwortete ich, «Ey, ich hab’ mir jetzt ganz oben links dieses Haus mit den vielen Garagen gekauft und da Polizeiautos, SWAT-Transporter und FBI-Wagen geparkt, die ich den Bullen geklaut habe.»
Ich war dankbar, das erzählen zu können. In der Schule interessierte es nicht einmal mehr, dass ich die gleichen Killerspiele wie alle spielte.
Die Pause verbrachte ich zusammen mit Philipp. Der hatte immer noch die gleiche alte Schwachstelle: Die Kiste, auf der er im Konzert stand.
«Kiste, Kiste, Kiste, Kiste, Kiste –», sagte ich.
«Ja, was ist das doch wieder unendlich witzig», erwiderte er.
«Kiste, Kiste, Kiste, Kiste, Kiste –»
«Daran erfreuen sich die Leute bestimmt nicht so, wie an denen Mitessern.»
Daraufhin griff ich nach Philipps zweiter Schwachstelle: Seine Seiten. Die meisten Menschen, inklusive mir, waren dort kitzelig. Bei Philipp jedoch war es besonders ausgeprägt. Man brauchte mit den Fingern auch nur in die Nähe zu kommen, schon war er vollständig außer Gefecht gesetzt. Meist ließ er es jedoch gar nicht so weit kommen, sondern nahm Reißaus. So auch heute. Ich verfolgte ihn über die Außenterrasse, ins Foyer, durch die Stuhlreihen. Als uns beiden schließlich die Puste ausgegangen war, setzte er sich ans Klavier und spielte eines seiner beiden Stücke. Es waren seit Jahren immer dieselben. Ich bewunderte ihn trotzdem dafür, wie gut er sie beherrschte. Und das auswendig. Er war wohl einer, der viel übte. Ich war das nicht. Üben, ein Instrument zu spielen, war peinlich. Ich hätte meine Mutter jedes Mal schlagen können, wenn sich mich mal wieder im vollen Bus fragte, ob ich diese Woche denn schon meine Instrumente geübt hätte.
Es war natürlich äußerst unangenehm, vor seine Lehrer zu treten und wieder nicht geübt zu haben. Doch zumindest mein Klarinettenlehrer nahm das inzwischen nur noch mit seinem ganz speziellen Humor. Er hatte im Hausblatt der Jugendmusikschule, der Tonart, einen Ankreuzbogen abdrucken lassen. Dessen einzige Frage hatte gelautet: ‹Ich konnte nicht Klarinette üben, weil –›, darüber hatte gestanden: ‹Bitte vor Betreten des Unterrichtsraumes ankreuzen!›. Genau das hatte ich getan und mich korrekterweise für die Antwort entschieden: ‹Weil ich im Computerspiel das x-te Level erreichen musste.›
Mein Klarinettenlehrer war darüber in Rage geraten.
«Das ist nicht der Bogen, den ich gemacht habe! Die haben mich von vorne bis hinten zensiert! Weißt du, bei ‹Weil ich im Computerspiel das x-te Level erreichen musste› war vorher so ein Kasten, in den du die Nummer des Levels reinschreiben konntest. Und weißt du was bei ‹Weil ich jede Nacht bis um drei mit den Austauschschülern aus Frankreich unterwegs war› eigentlich gestanden hat?»
«Keine Ahnung.»
«‹Weil ich jede Nacht bis um drei mit den Austauschschülern aus Frankreich gesoffen habe›.»
Darüber hatte ich herzhaft gelacht. Zum Üben motiviert hatte es mich jedoch nicht. Was half es mir, dass meinem Klarinettenlehrer das gefallen hätte, wenn ich Gleichaltrigen damit noch mehr Material gegen mich lieferte? Nein, ich wollte nicht üben, auch wenn es mir schon gefallen hätte, etwas besser spielen zu können.
Philipp aber übte gerne. Er war wohl so einer wie mein Vater, der außer Klassik nichts hörte und auf alles andere herabsah. Deshalb erzählte ich ihm wohl lieber nicht, dass ich weniger fleißig war. Ich erzählte ihm am besten nicht einmal, dass ich Klarinette spielte.
Als Herr Kaiser uns beide dann in den Keller schickte, um dort Noten zu holen, war ich zum Glück wieder in meinem Element.
«Ey, mit diesen bunten Rohren und Türen sieht das hier ja mal voll aus wie in der Unterwasserbasis von No one lives forever 2. Kennst du das?»
«Nein, wie ist das so? Was macht man da?»
Fragen, die ich ihm nur zu gerne beantwortete. Ich wäre auch gerne ausführlich geworden, doch: Gleich ging die Probe weiter. Und so war es auf einmal schade, dass auch beim Chor die Pausen rund zehn Minuten dauerten. Zehn Minuten, die mich immer zu fragte, was ich hier wohl tun würde, würde man mich alleine stehen lassen.