Vom vorausschauenden Denken
Perlen von Holstein Folge 115
Unser Chorleiter war David und mir in einer Hinsicht verblüffend ähnlich: Auch er hatte schon jetzt die Zeit nach der Tournee im Blick. Während wir dabei aber vor allem an unsere Computer dachten, dachte er an den kommenden Dezember. Und so galten alle Proben dieser Reise unserem neuen Weihnachtsprogramm.
Wie vorausschauend Herr Kaiser dachte, ging mir aber erst auf, als er uns einmal mehr mit O Heiland reiß die Himmel auf von Johannes Brahms behelligte. Das probten wir nämlich schon mindestens seit Juni. Ich hatte es deshalb als Teil des Repertoires dieser Tournee betrachtet. Fassungslos hatte mich das gemacht. Wollte Herr Kaiser uns allen Ernstes im Ausland diese Textpassage singen lassen: ‹Ach komm, führ uns mit starker Hand vom Elend zu dem Vaterland›? Er wollte es nicht. O Heiland reiß die Himmel auf basierte auf einem Adventslied, so wenig Text und Musik dies auch vermuten ließen.
Herr Kaiser dachte aber wohl nicht nur vorausschauend, weil er eben vorausschauend dachte und weil er Erfolg für planbar hielt. Er tat es vor allem, weil er es infolge seiner Philosophie musste. Eines nämlich sollten wir nämlich nicht denken: dass es nach zwölf Jahren Tochter Zion unter Frau Siebenkittel jetzt unter ihm vierzig Jahre Unser lieben Frauen Traum geben würde. Ganz und gar nicht. Herr Kaiser ließ kein Stück länger als zwei Jahre am Stück singen. Möglich, dass er sich damit von seiner Vorgängerin abgrenzen wollte. Wahrscheinlicher war aber, dass er nicht so werden wollte, wie der Chorleiter, unter dem er einst gesungen hatte.
«Wisst ihr, mein alter Chorleiter, der Martin Flämig vom Dresdner Kreuzchor, der war, als er mein Chorleiter war, schon so alt und gebrechlich, der hat eigentlich gar nicht mehr so viel mitbekommen. Vor allem aber hat er bei Stücken, die wir jedes Jahr gesungen haben, immer die gleichen Fehler bemängelt. Es war völlig egal, ob die überhaupt von uns gemacht worden sind, er hat sie bemängelt. Der war in seinem Alter einfach der Meinung, dass diese Fehler immer gemacht werden. Ihr werdet natürlich alle nicht mehr hier sein, wenn ich einmal so alt bin. Dennoch bitte ich euch: Wenn ihr einmal mitbekommt, dass ich Fehler bemängele, die nicht gemacht worden sind, sagt mir bitte Bescheid. Dann weiß ich, dass es an der Zeit ist, als Chorleiter aufzuhören.»
Und deshalb sangen wir dieses Jahr nicht Unser lieben Frauen Traum, sondern Wie soll ich dich empfangen von Johann Crüger. Eine Entscheidung, die ich sehr begrüßte. Ich hatte das Stück von der ersten Sekunde an gemocht. Die altmodische, bildhafte Sprache des Textes hatte etwas: ‹O Jesu, Jesu setze mir selbst die Fackel bei, damit was dich ergötze mir kund und wissend sei.› Zugegeben: Wären diese Verse mir im Deutschunterricht präsentiert worden, ich hätte sie wohl als abstoßend empfunden. Dort hätte ich aber auch eine Interpretation über sie schreiben müssen. Und meine Fantasie reichte nun einmal nicht aus, all das zu finden, was man nach Ansicht meines Deutschlehrers in etwas hineininterpretieren konnte. Dies hier war aber kein Deutschunterricht, dies hier war der Chor. Hier konnte ich die Worte auf mich wirken lassen. Dies war ein Leichtes, wenn man Teil des Klangs war. Junge, Junge, was für Harmonien! Und was für wohlig tiefe Töne. Es war schon richtig, dass in dem Text das Wort Fackel vorkam. Besser konnte man die Stimmung dieser Musik nicht beschreiben. Sie war, so bescheuert das klang, ein Ort des Lichtes und der Wärme inmitten der Dunkelheit und Kälte des Winters.
Herr Kaiser hatte keine große Freude daran, dass mir das Stück so sehr gefiel. Denn je besser mir ein Stück gefiel, desto lauter brüllte ich den Schlusston. Seine wiederholten Aufforderungen, mich zurückzuhalten, fruchteten stets nur kurz. Es war nämlich nicht einmal nur so, dass es mir Spaß machte, den Schlusston zu brüllen. Mir erschien das vollkommen logisch. Schließlich war dies der Punkt, auf den wir die ganze Zeit hin sangen. Der Punkt, an dem sich alle zuvor aufgebauten Spannungen lösten. Warum also sollte man ihn nicht laut singen? Vielleicht dachte ich auch einfach zu vorrausschauend.
Weihnacht, strahlendes Fest schlug in die gleiche Kerbe wie Wie soll ich dich empfangen und war doch ganz anders. Es war eigentlich ein schwedisches Weihnachtslied mit Namen Jul, jul, strålande jul, wir sangen es jedoch auf Deutsch. Das tat der Stimmung keinen Abbruch. Auch diese Musik war ein Ort des Lichtes und der Wärme inmitten der Dunkelheit und Kälte des Winters. Dies ging auch aus der ersten Strophe so hervor: ‹Weihnacht, strahlendes Fest, kommst wieder auf die Erde. Bringest das Licht in die Dunkelheit, tröstest die Menschen in Kummer und Leid.› Wo aber Wie soll ich dich empfangen die Festlichkeit einer hell erleuchteten Dorfkapelle verbreitete, gab sich Weihnacht, strahlendes Fest verschlafen und geheimnisvoll. Verschlafen und geheimnisvoll wie eine schwedische Kleinstadt in der Polarnacht. Es war schon beeindruckend, wie unterschiedlich ein Ort des Lichtes und der Wärme inmitten von Dunkelheit und Kälte daherkommen konnte.
Unterschiedlich daher kamen auch die Strophen von O Heiland reiß die Himmel auf. Und genau das war der Grund dafür, dass ich es mittlerweile irgendwie mochte. Es schien trotz seiner Naturbeschreibungen aus einer düsteren, gnadenlosen Welt zu stammen. Eine, in der die Menschen nur hilflos zusehen konnten, wie ihr Heimatdorf von einer Horde schwarzer Reiter in Brand gesteckt wurde. Bei den Worten ‹O Erd schlag aus, dass Berg und Tal grün alles, alles wird› musste ich an einige Landschaften des Killerspiels Unreal Tournament 2004 denken. Sie schienen einem anderen Erdzeitalter zu entstammen. Wie unsagbar zäh waren sie doch gewesen, die Schlachten, an denen ich hier mitgewirkt hatte. Die Sonne hatte die Wolkendecke teilweise durchdrungen und die ganze Umgebung in ein surreales Licht gehüllt. Jeder Grashalm hatte signalisiert, dass dies ein Ort war, an dem das Leben ein ewiger Kampf war. Das war kein Szenario, das zu Weihnachten passte, aber eines, in das einzutauchen mir durchaus gefiel. Zumindest vorübergehend. Ob das Stück die gleiche Wirkung gehabt hätte, wären der Schwierigkeitsgrad nur halb so deftig und der Text weniger befremdlich gewesen? Womöglich nicht.