Schon tot

Perlen von Holstein Folge 123

November 2005

Die Reise saß David und mir noch tief in den Knochen, da zog schon das nächste Unheil herauf: Das traditionelle November-Chorwochenende. Wobei: Chorwochenende hieß das inzwischen nicht mehr. Marc hatte die Veranstaltung in Chorfreizeit umbenannt. Das jedenfalls war dem aktuellen Probenplan zu entnehmen. Womit sich wieder einmal zeigte, dass es sich durchaus lohnte, ihn zu lesen. David hatte das gewiss wieder einmal nicht getan. Ich würde ihn also genüsslich über die Neuerung aufklären können.

Bei der letzten Probe vor der Chorfreizeit sah ich meine Zeit gekommen.

«Na David, freust du dich schon auf Maschen? Auf die Chorfreizeit

«Haha, ‹Chorfreizeit›. Heißt das jetzt etwa so?»

«Ja, das heißt so. Guck mal in den Probenplan. Da steht das drinnen.»

«Alter, was für eine dreiste Form von Verschleierung. Was hat denn ein Chorwochenende mit Freizeit zu tun?»

«Eigentlich ist das doch schon wieder so ein Wort, für das wir eine unheimliche Melodie brauchen, die jedes Mal erklingt, wenn wir das sagen.»

«Genau, Mann. Weißt du zufällig eine?»

«Klar. Du kennst doch bestimmt diese berühmte Szene aus Psycho, also diesem Film, in dem die Frau in der Dusche abgestochen wird. Während das passiert, hört man da ja erst die Geigen und dann so einen Schrei, so: Wimm, wimm, wimm – Ah!»

«Haha, geil, Alter. Los, du machst die Geigen, ich mach’ den Schrei.»

Gesagt, getan.

music snippet

Ich wusste nicht, was ich komischer finden sollte: Davids grellen Schrei oder seine Art, das Freizeit von Chorfreizeit auszusprechen. Nur einmal in meinem Leben hatte ich jemanden etwas mit derart viel Abscheu sagen hören: Beim Spielen des Killerspiels Dungeon Keeper, als der dämonische Berater den Ortsnamen Lieblichknuffeltal in den Mund genommen hatte.

David tat dies wohlgemerkt keineswegs im Scherz. Er meinte es todernst. Je länger er über den Ausdruck Chorfreizeit nachdachte, desto mehr konnte er sich darüber in Rage reden.

«Oh Mann, ey, alleine ‹Chorfreizeit›. Ich meine: Chor und Freizeit, das ist so – Ah! So – Ah! Das ist der Widerspruch in sich. Das geht einfach nicht.»

Es war wirklich beruhigend zu wissen, dass selbst einem Marc in diesem Leben kein schlimmeres Wort mehr für etwas einfallen würde. Zum einen, weil ich sonst ernsthaft um Davids Gesundheitszustand hätte fürchten müssen. Zum anderen, weil die Melodie von Psycho hinsichtlich der musikalischen Darstellung von Schrecken nicht zu überbieten war. Die verwendbaren Tonfolgen waren mir generell inzwischen ausgegangen. Die einzige, die noch in Frage kam, war die am Anfang von Bachs Toccata. Laut meinem Klarinettenlehrer wurde sie bei ihm zu Hause immer angestimmt, wenn von unangenehmen Dingen die Rede war.


Eine Woche später fanden wir uns im Maschener Speisesaal wieder. Jenem Ort, an dem seit jeher alle Chorwochenenden wirklich begannen. Mit uns am Tisch saßen Morle und Lukas. Letzterer war nicht zu verwechseln mit meinem alten Kumpel Lukas. Den hatte es in irgendein Kuhkaff in Schleswig-Holstein verschlagen, nachdem sein Vater dort eine Stelle bekommen hatte. Aus dem Chor hatte er im Hinblick auf die Taktdichte der ÖPNV-Verbindung austreten müssen. Der Lukas, der mit uns am Tisch saß, war erst seit Kurzem dabei. Er behauptete aber, früher schon einmal Mitglied gewesen zu sein. Ich hatte den dringenden Verdacht, dass es sich um jenen Lukas handelte, der Anno 1998 auf dem Rückflug von München neben mir gesessen hatte. Mit seinem Riesenschädel hatte er erfolgreich verhindert, dass ich auch mal einen Blick aus dem Flugzeug hatte werfen können. Stinksauer war ich auf ihn gewesen. Es konnte sich aber auch um einen anderen Lukas gehandelt haben. Der damalige Lukas war wohlgenährt gewesen. Der Lukas, der mit uns am Tisch saß, war hingegen eher schlaksig.

Unsere Gespräche drehten sich größtenteils um David und mich. Wir erzählten ihnen von unserem Unmut über die Wortschöpfung Chorfreizeit und was wir uns dazu hatten einfallen lassen. Morle und Lukas lachten sich tot. Wir erzählten ihnen, was wir uns auf der Fahrt nach Mailand zu dem Wort überstanden hatten einfallen lassen. Morle und Lukas lachten sich tot. Schließlich erzählten wir ihnen von dem An-Aus-Spiel und was wir uns dabei so alles hatten einfallen lassen.

«Und dann habe ich so gesagt: ‹Die Streitkräfte des Lichtes haben über die Finsternis gesiegt›», sagte ich.

Morle spuckte den frisch in den Mund eingeführten Tee zurück in die Tasse.

«Hahaha, ‹Die Streitkräfte des Lichtes –», brachte er noch hervor, ehe er in einen mehrminütigen Lachanfall verfiel.

«Sagt mal», sagte er schließlich, «wie seid ihr eigentlich so in der Schule?»

«Ach, inzwischen eigentlich wieder ganz gut», erwiderte ich.

«Ja, bei mir geht’s momentan auch», entgegnete David.

«Hach, Lukas», sagte Morle, «ich wette mit dir, die beiden sind diese typischen verkannten Genies. Schreiben die ganze Zeit nur Dreien und Vieren, obwohl die jeden Streber locker in die Tasche stecken könnten.»

Verkannte Genies, die jeden Streber locker in die Tasche stecken könnten. Es war schon merkwürdig, ein solch wohlwollendes Urteil aus dem Munde Morles zu hören. Hatte er doch neulich erst, als er, Lukas, David und ich nebeneinander gestanden hatten, von den vier Stufen der Evolution gesprochen, die aufeinandertrafen.


Ich teilte mir ein Zimmer mit David und Imanuel. Letzterer zog es wieder einmal vor, den Abend mit den Erwachsenen zu verbringen. So war ich mit David alleine. Wir trauerten noch immer dem verlorenen Wochenende nach. Ich erfuhr dabei, dass das Schicksal meinen alten Freund besonders hart getroffen hatte: Er hatte gerade diese Woche seinen neuen Computer, einen iMac, bekommen. Mit welch sinnvollen Dingen er die Zeit verbracht hätte, würden wir nicht hier sitzen, bedurfte somit keiner Erklärung.

«Oh, David», sagte ich, «stell dir vor: Jetzt könntest du vor deinem neuen iMac sitzen und Warcraft III spielen.»

«Hör auf.»

«Deine Finger würden die Tastatur berühren, deine Augen den großen, neuen, geilen Bildschirm anstarren.»

«Oh nee, bitte, jetzt hör auf.»

«Du hättest jetzt noch das ganze Wochenende vor dir. Ein Wochenende nur mit dir und deinem iMac. Doch stattdessen sitzt du hier. Hier, wo es überhaupt nichts gibt außer Proben und Langeweile.»

Worte, die ein eher zweckloser Versuch waren, mich von meinem eigenen Schmerz abzulenken. Morgen würde das Killerspiel Age of Empires III erscheinen und ich würde es nicht spielen können. Immerhin hatten meine Eltern eingewilligt, es für mich zu kaufen. So würde ich wenigstens meinen kärglichen Restsonntag damit verbringen können. In schweren Zeiten wie diesen ein denkbar schwacher Trost. Ich hatte ja nicht einmal eine Killerspiel-Zeitschrift mit nach Maschen nehmen können. Weil wir in diesem Schuljahr jeden Freitag bis zur achten Stunde Unterricht hatten, war keine Zeit mehr gewesen, eine zu erstehen. Notgedrungen war ich an das Bücherregal meiner Mutter gegangen und hatte einen ihrer zahllosen Krimis herausgezogen: Mörder ohne Gesicht von Henning Mankell.

Der Gedanke, es jetzt hervorzuholen, kam mir seltsam vor. Es war bestimmt fünf Jahre her, dass ich das letzte Mal freiwillig ein Buch gelesen hatte. Alles, was ich an dieser Zeit an Literatur in der Hand gehalten hatte, war mir entweder von der Schule, meiner Mutter oder beiden gemeinsam aufgebürdet worden. Mit dieser Tradition wollte ich nicht brechen. Ich hatte schließlich auch einen Ruf zu verlieren. Doch welche Wahl blieb mir?

Ich holte den Schmöker heraus und begann, ihn zu lesen. Die Unmittelbarkeit, mit der die blutrünstige Handlung erzählt wurde, zog mich sofort in ihren Bann. Gleiches galt für die von Kommissar Wallander offen zur Schau gestellte Frustration mit seinem Beruf, seinem Leben und überhaupt allem. Unglaublich, dass so etwas in einem Buch stehen konnte. Ich war begeistert.

Natürlich konnte ich das nicht zugeben.

«Ey», sagte ich zu David, «ich finde das ja so lustig: Ein Bulle, der Kurt heißt.»

Bei den Namen Kurt musste ich nämlich immer automatisch an das Lied Hier kommt Kurt denken. Nicht in der Originalfassung mit Frank Zander wohlgemerkt, sondern in der mit einem betont männlich singenden Kind, die wir früher auf irgendeiner Kassette gehabt hatten. Ich hatte das schon damals einfach nur unfreiwillig komisch gefunden: ‹Hier kommt Kurt, ohne Helm und ohne Gurt, einfach Kurt.

«Ja, haha», erwiderte David und warf einen Blick auf mein Buch, «Ey, ist das ein Kurt-Wallander-Krimi?»

«Ähm, ja.»

«Boah, geil. Den musst du unbedingt ganz zu Ende lesen. Die Dinger sind wirklich richtig geil. Die besten Krimis überhaupt.»

Es war schon merkwürdig, eine derart positive Reaktion von einem Gleichaltrigen darauf zu bekommen, dass man ein Buch las. Aber wenn dem so war, wenn Wallander-Krimis wirklich richtig geil waren, dann konnte ich mich meinem ja weiter widmen.

Eine Stunde verging. Allmählich war es an der Zeit, sich schlafen zu legen. David und ich machten uns bettfertig. Währenddessen redeten wir einmal mehr darüber, wie wenig sicher wir uns eigentlich sein konnten, dass die Welt um uns herum tatsächlich existierte. Die Enge unserer Kammer und die Finsternis draußen vor dem Fenster boten hierfür reichlich Inspiration.

«Weißt du, wovor ich gerade richtig Angst habe?», sagte ich, «Stell dir vor, jetzt gehen wir aus dem Zimmer und niemand ist mehr da. Und wenn wir dann zur Haustür gehen, lässt sie sich nicht öffnen und wir stellen fest: Die Welt um das Haus herum existiert nicht mehr und wir schweben für immer durch das endlose Nichts.»

«Davor habe ich in jedem größeren Gebäude Angst», erwiderte David, «Aber weißt du, was auch richtig unheimlich ist: Stell dir mal vor, das Haus ist jetzt plötzlich um dreihundert Jahre gealtert.»

Ich stellte mir vor, wie unser Zimmer plötzlich von Bäumen und Sträuchern überwuchert wäre. Von den Möbeln war nicht mehr viel übrig, ebenso wenig von Türen und Fenstern. Ein Ort, an dem ich am liebsten geblieben wäre, denn was hier passiert war, wusste ich. Was draußen los war, wusste ich nicht. Ich würde aber früher oder später hinausgehen müssen, um Nahrung zu beschaffen. Und um zu verhindern, dass ich gefunden wurde von dem, das dort sein Unwesen trieb. Es hatte meine Fährte wohl längst aufgenommen.

Allmählich bekam ich wirklich Angst.

«David jetzt lass mal bitte gut sein», sagte ich. Ich kletterte vom Bett und ging zum Waschbecken.

«Jetzt stell dir mal vor, dein Spiegelbild streckt plötzlich die Hand aus und greift nach dir», sagte David.

Ich blickte zu ihm herüber. Er hatte wieder jenen kalten Blick, den er schon in Darmstadt urplötzlich aufgesetzt hatte. Allmählich stellte ich mir die Frage, ob er derjenige oder besser: dasjenige war, wofür ich ihn all die Jahre gehalten hatte.

Ich sah in den Spiegel. Mein Spiegelbild griff nicht nach mir. Es tat genau, was ich auch tat. Aber wartete es vielleicht nur einen unachtsamen Moment ab?

«Und jetzt stell dir vor», sagte David, «dieses Haus, also Maschen, ist in Wirklichkeit gar kein Haus. Es ist ein Organismus, der dich verschlingen und verdauen will. Es täuscht deine Sinne, damit du denkst, du wärst in einem Haus, und keinen Widerstand leistest. Maschen ist eine Todesfalle.»

Ich packte meine Zahnbürste in die Kulturtasche, ging zurück zum Bett und kletterte hinauf.

David redete unbeeindruckt weiter: «Ja, leg dich auf die Zunge, ähm – das Bett!»

Ich schaltete das Licht aus.

David redete noch immer: «Du denkst, du liegst in einem ganz gewöhnlichen Bett, doch in Wirklichkeit bewegst du dich schon durch die endlos lange Speiseröhre.»

Wie er das sagte, hatte ich plötzlich wirklich das Gefühl, mich durch eine Art Tunnel zu bewegen.

«David, ich will jetzt wirklich schlafen», sagte ich.

«Du sprichst nicht mit David. Du sprichst mit – Maschen

Von Panik ergriffen, schlug ich nach dem Lichtschalter.

David lachte triumphierend.

«Ach, Lennart», sagte er, «es ist echt so geil, wie leicht man dich in den Wahnsinn treiben kann, hahaha.»

David war nun offensichtlich wieder er selbst. Das Licht auszumachen traute ich mich trotzdem erst, nachdem Imanuel zurückgekehrt war. Ich erzählte ihm von der endlos langen Speiseröhre und was David mir sonst noch zugeflüstert hatte.

Ich hatte damit gerechnet, dass ich Verständnislosigkeit ernten würde. Imanuel aber lachte.

«‹Du sprichst mit Maschen›, haha, wie geil», sagte er.

«Was sollte das überhaupt plötzlich?», fragte ich David.

«Das war die Rache dafür, dass du mich vorhin so damit geärgert hast, dass ich nicht an meinen neuen iMac kann.»

«Oh, Mann», sagte ich.

Meinen alten Freund David wollte man nicht zum Feind haben.