The Moment of Silence
Perlen von Holstein Folge 129
Das Elend nahm heute mal wieder sehr rasch seinen Lauf: Wir hatten noch keine fünf Töne gesungen, da brach Herr Kaiser auch schon ab. Der Zorn stand ihm ins Gesicht geschrieben. Vollkommen zu recht, das war uns allen klar. Wir waren deshalb darauf gefasst, dass er nun lospoltern würde. Doch Herr Kaiser polterte nicht los. Dieses kleine Vergnügen wollte er sich noch ein wenig aufheben. Stattdessen drehte er sich um und ging auf den Flügel zu. Im ganzen Probenraum herrschte gebanntes Schweigen. Die Knaben schwiegen, weil sie sich nicht trauten, etwas zu sagen. Wir Männer, weil die Heiterkeit am größten war, wenn man im rechten Moment loslachte.
Dieser rechte Moment kam jetzt. Herr Kaiser streckte den Finger aus und betätigte eine Taste des Flügels. Ein Ton erklang. Nicht irgendein Ton, sondern der, den der Sopran eigentlich jetzt hätte singen müssen. Der Sopran hatte diesen Ton aber nicht gesungen. Nicht einmal annäherungsweise. Zwischen den Ton, den der Sopran gesungen hatte und den, den der Sopran eigentlich hätte singen müssen, hätten mühelos vier oder fünf andere gepasst. Jene vier oder fünf Töne, die der Sopran im Laufe der ersten fünf Noten des Stückes gesackt war.
David, Max-Frederick und ich brachen in gellendes Gelächter aus.
Die Knaben lachten ebenso, wohlwissend, dass unser Spott eher ihnen galt als Herrn Kaisers Zorn. Wohl deshalb wusste unser Chorleiter sich nur noch mit Sarkasmus zu behelfen.
«‹– und Herr Kaiser ist immer so streng zu uns›», äffte er die gequengelte Beschwerde eines Knaben nach.
Darüber nahm das Gelächter von Max-Frederick, David und mir orgiastische Züge an. Den Knaben hingegen sollte das Lachen nun im Halse stecken bleiben. Unser Chorleiter begann, anhand eines Musterbeispiels zu erläutern, was das Problem war.
«Henric, wie oft soll ich deinen Namen jetzt noch in der Probe sagen müssen, bis ich zu dem Schluss kommen muss: ‹Der Henric, das ist ein toller Junge, aber für den Chor ist er nicht geeignet.› Wie oft muss ich deinen Namen bis dahin noch sagen? Ich weiß es nicht. Mach mir ein Angebot. Wie oft soll ich deinen Namen noch sagen?»
Der Junge schwieg, die anderen Knaben schwiegen mit ihm. Sogar uns Männern war das Lachen mehr oder minder vergangen. Eine gefühlte Ewigkeit später ließ unser Chorleiter von Henric ab. Nun richtete er das Wort an uns alle.
«Leute, wenn ihr so singt, wird jede Sau hören, dass ihr es falsch macht. Selbst der Hausmeister, der nur rein zufällig da ist und überhaupt nichts von Musik versteht, wird hören, dass ihr falsch gesungen habt.»
Ein Knabe namens Béla versuchte, die Situation ein wenig zu entspannen.
«Ja, aber wieso sollte eine Sau uns hören wollten?», sagte er.
«Oh, halt die Fresse, Béla!», brüllte Max-Frederick.
Für unseren Chorleiter war die Äußerung ebenso ein gefundenes Fressen.
«Béla, wenn du in der Pause rausgehen und dich austoben würdest, könntest du in der Probe bestimmt auch still sitzen und dich konzentrieren!»
Seit geraumer Zeit war es nämlich kennzeichnendes Merkmal jeder Pause: Béla saß in Klositzhaltung auf seinem Stuhl und spielte auf seinem Game Boy Advance SP Killerspiele. Flankiert wurde er dabei von zwei Knaben, die in Klositzhaltung neben ihm saßen und gemeinsam mit ihm auf den kleinen Bildschirm starrten. Über den Game Boy Advance SP musste man wissen, dass er im Gegensatz zum gewöhnlichen Game Boy Advance aufklappbar war. Und wenn etwas aufklappbar ist, dann ist es natürlich auch zuklappbar. Das wusste besonders David sehr zu schätzen. Wann immer er Béla mit dem Game Boy Advance SP spielen sah, schlich er sich an ihn heran und schlug gegen die Displayklappe. Das Gerät schloss sich und schaltete sich automatisch aus. Alle Spielfortschritte Bélas waren verloren. Der ließ sich davon nicht aus der Trance bringen. Er schaltete das Gerät wieder ein und spielte von vorne.
Béla hatte mit anderen Worten keinen besonders hohen Stand. Und somit war er auch keiner, der eine Situation zu entspannen vermochte. Herr Kaiser war genauso wütend wie zuvor.
Dabei war er so guter Dinge gewesen, als die Probe heute begonnen hatte.
«Wisst ihr», hatte er gesagt, «zu Zeiten, als ich mir meine Schüler noch nicht aussuchen konnte, also als ich noch ein Student war, da hatte ich so eine Schülerin, das war eine ganz Nette – nicht besonders helle im Kopf, aber eine ganz Nette. Und die hat jedes Mal, wenn ich gesagt habe, dass sie hoch singen soll, etwas erstaunt nach oben gesehen. So.» Er imitierte die Bewegung mit einfältigem Blick.
Dann, beim Einsingen, hatte er uns am Klavier mit allerlei gehässigen Modulationen erfreut. Zuletzt hatte er sogar – auf meinen ganz speziellen Wunsch – jenes Lied geklimpert, das ich schon in der Einzelstimmbildung lieben gelernt hatte.
Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Es ist ein weit verbreitetes Vorurteil, dass es in der Klassik immer ernst und düster zugeht. Das Gegenteil ist zuweilen der Fall. Hans Bach, ein entfernter Vorfahr von Johann Sebastian, war bekannt für seine musikalischen Späße. Über sein Geigenkunst dichtete man: ‹Hier siehst du geigen, Hannsen Bachen. Wenn du es hörst, so musst du lachen. Er geigt gleichwohl nach seiner Art und trägt einen hübschen Hanns-Bachen-Bart.›
Ich hatte meiner Begeisterung durch Mimik und Gestik Ausdruck verliehen. Sehr zur Freude von Max-Frederick.
«Hahaha, wie er sich darüber freut, hahaha.»
Morle und Lukas hätten sicher ebenso ihren Spaß daran gehabt. Leider waren sie beidesamt Ende letzten Jahres ausgetreten. Morle, weil er auf ein Internat in der Schweiz wollte. Lukas aus Gründen, die im Dunkeln bleiben mussten. Die Stimmung war aber auch ohne die beiden ausgelassen genug gewesen.
Das war jetzt vorbei. Jetzt war Herr Kaiser stinksauer. Wobei: Stinksauer war der falsche Begriff. Der Mann wirkte eher frustriert. Und das kam in jüngster Zeit irgendwie häufiger vor.