Burgfrieden
Perlen von Holstein Folge 145
Als wir gestern in Prag eingetroffen waren, hatte Marc noch darüber lachen können, dass unsere Unterkunft ein Ein-Sterne-Hotel sein würde. Voller Belustigung hatte er es im Bus verkündet – den schon bald über ihn hereinbrechenden Beschwerden trotzig ins Auge sehend. Das Lachen war ihm jedoch recht schnell vergangen. Auch die Knaben hatten nämlich rasch gemerkt, dass die Mängel dieser Unterkunft weit über das Übliche hinausgingen. Einige von ihnen hatten gar leere Spritzen in ihren Zimmern gefunden. Die Verantwortung für derlei Hinterlassenschaften hatten sie aber natürlich nicht bei ihren Vormietern oder dem Hotelpersonal gesucht. Schuld war für sie alleine Marc. Ähnlich sah das Herr Kaiser. Eine halbe Stunde hatte er gebraucht, um sich aus der ein Quadratmeter großen Toilette seines Apartments zu befreien. Anders als ich hatte er keinen Philipp gehabt, der ihm zur Hilfe eilt. Geharnischte Kritik war da mehr als berechtigt.
Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Wir Deutschen geißeln uns gerne einmal für unseren Hang, uns über alles zu beschweren. Das wäre löblich, wäre diese Selbsterkenntnis der erste Schritt zur Besserung. Andererseits: Ein umfangreicher Beschwerdebrief Johann Sebastian Bachs gilt heute als eines der wichtigsten musikhistorischen Dokumente. Hätte der Meister nicht haarklein aufgezählt, was ihm alles an Instrumenten und Musikern fehlte: Wer wüsste heute, was ihm beim Komponieren so an Besetzungen vorgeschwebt hatte? Gleichermaßen wird gewiss auch manch unsachliche Hotelbewertung dereinst als wichtige zeitgenössische Quelle dienen.
Marc hatte wohl geglaubt, dass es nicht mehr schlimmer für ihn werden konnte. Bis er am nächsten Morgen die Lunch-Pakete kennengelernt hatte. Einem Knaben, der sich weigerte, davon zu essen, erteilte Marc pflichtgemäß einen Rüffel. Doch war recht deutlich zu merken, dass er den Jungen nur zu gut verstand. Man konnte mit unserem Geschäftsvorsitzenden wirklich nur Mitleid haben.
Unsere Fotografiererei hieß Marc übrigens ausdrücklich gut.
«Ja, fotografiert mal schön. Das knallen wir dem Reisebüro dann am Ende alles auf den Tisch!»
Ein Vorhaben, bei dem wir unseren Marc nur zu gerne unterstützen. Auch wenn uns die ganze Angelegenheit noch immer vor allem belustigte: In diesen schweren Stunden standen wir auf seiner Seite. Bis auf weiteres herrschte Burgfrieden.
Die Fahrt vom Hotel in die Prager Innenstadt verlief dementsprechend ohne An-Aus-Spiele und vergleichbare Narreteien. Wir hatten hierzu auch wenig Gelegenheit. Zunächst einmal musste ich nach vorne gehen und den Besitzer des Plüschtiers ermitteln, das ich unter meinem Sitz gefunden hatte. Während ich darauf wartete, dass Marc mich ans Mikrofon ließ, lehnte ich mich gegen die Plastikablage unterhalb der Frontscheibe des Busses. Etwas in diesem Gefährt offenbar bei Strafe Verbotenes.
«Nicht gegenlehnen», sagte der Busfahrer in bestimmtem Ton.
Ich blickte kurz zu ihm herüber. Seinem Aussehen und seiner Stimme nach zu urteilen war er Deutschtürke, seinem Verhalten nach aber eher Deutscher als Türke. Ich wusste nicht so recht, was ich von ihm halten sollte. Dennoch fügte ich mich.
Nachdem der Besitzer des Plüschtiers ermittelt war, trat eine Frau ans Mikrofon. Sie war Fremdenführerin und zugestiegen, um uns ein wenig über die Hauptstadt der Republik zu erzählen. ‹Die Hauptstadt der Republik›, sie sagte das tatsächlich. Was sie meinte, war natürlich Prag. Ich fand diese Wortwahl etwas sonderbar. Meine Killerspiel-Erfahrung sagte mir: Wenn Staatengebilde unablässig betonten, eine Republik zu sein, waren sie meist alles, nur nicht das. Ich wusste, dass Tschechien einem solchen Staatengebilde angehört hatte. Doch waren diese Zeiten nicht längst vorbei?
Einen ungleich größeren Fauxpas leistete die Dame sich jedoch, indem sie uns Vergleiche zwischen Prag und Hamburg anstellen ließ. Ihr Ziel war offensichtlich, uns die Überlegenheit der goldenen Stadt vor Augen zu führen. Das konnten und wollten wir uns nicht gefallen lassen. Es ist nun einmal so: Natürlich begegnet man als guter Hamburger anderen Städten und ihren Reizen mit Aufgeschlossenheit. Solange allen Beteiligten klar ist, dass sich trotz alledem nichts mit Hamburg, der schönsten Stadt der Welt, messen kann. Was die Dame hier tat, konnte somit nur als Affront gewertet werden. Ein Affront, der sich spielend leicht parieren ließ.
«Prag ist eine große Stadt mit vielen Einwohnern. Könnt ihr mir sagen: Wie viele Einwohner hat Hamburg?»
«Eins komma acht Millionen!»
«Oh! Na, Prag hat nicht ganz so viele, nämlich 1,2 Millionen, aber das ist auch sehr viel.»
Richtig, 1,2 Millionen Einwohner – 1,2 Millionen Menschen – waren eine gewaltige Menge. Eine, die auf einem Haufen sich niemand vorstellen konnte. Es waren trotzdem ein Drittel weniger als in Hamburg lebten. Andererseits musste man ja doch zugeben, dass auf der Welt eine beträchtliche Anzahl von Städten gab, deren Einwohnerzahl ein Vielfaches der von Hamburg betrug. Welch glückliche Fügung, dass die Fremdenführerin nun auf das Lieblingsthema eines jeden Hamburgers zu sprechen kam.
«Durch Prag fließt ein großer Fluss: die Moldau. Und um schnell über die Moldau zu kommen, musste man natürlich viele Brücken bauen. Prag ist eine Stadt mit ganz vielen Brücken. Gibt es eigentlich in Hamburg viele Brücken?»
«Hamburg ist die Stadt mit den meisten Brücken in Europa! Mehr als Amsterdam, London und Venedig zusammen!»
Die Antwort auf eine solche Belehrung konnte nur kleinlaut ausfallen.
Der Rundfahrt folgte ein Rundgang durch die Prager Altstadt. Allerdings ohne Fremdenführerin, die hatte uns mittlerweile verlassen. Während wir durch belebte Gassen schlenderten, fiel mir eines auf: Prag war vielleicht nicht die Stadt mit den meisten Brücken, sehr wohl aber die mit den meisten Wechselstuben. Egal, wo wir hinkamen: Von jeder Straßenseite prangte einem mindestens eine Anzeigetafel mit den angebotenen Umtauschkursen entgegen. Ich sah keinen Anlass, nach dem attraktivsten Angebot Ausschau zu halten. Ich hatte mein Geld bereits im Hotel umgetauscht. Auch dort nämlich, wo es sonst an allem fehlte, hatte es eine Wechselstube gegeben. Man konnte wirklich nur zu dem Schluss kommen, dass die Tschechen nicht sonderlich an ihrem Geld hingen. Es war zumindest dem Anschein nach auch nicht viel wert. Für meinen Zehn-Euro-Schein hatte ich rund dreihundertdreißig Kronen erhalten. Und den Preisaushängen nach zu urteilen, konnte ich mir davon schon Einiges kaufen.
An sich aber musste ich sagen, dass mir die Prager Altstadt doch schon deutlich besser gefiel als das Viertel, in dem unser Hotel stand. Ich konnte jedoch nicht näher ergründen, woran das lag. Das gemächliche Schlendern war vorbei, wir wurden jetzt zu unserem ersten Auftrittsort in dieser Stadt gescheucht. Dieser war eine Kirche, die ich ohne fremde Hilfe kaum gefunden hätte. Obwohl sie nicht gerade klein war, konnte man sie bereits auf kürzere Entfernungen nicht mehr sehen. Sie war nämlich nicht etwa von einer größeren Freifläche umgeben, sondern lag inmitten von Häuserreihen. Höhentechnisch konnten diese es mühelos mit ihr aufnehmen – zumindest, wenn man sich ihren Turm wegdachte.
Unser Auftritt hier war die Mitwirkung an einem Gottesdienst. Er lief, wie Auftritte seit geraumer Zeit immer liefen: Beim ersten Stück gaben sich die Knaben Mühe und schlugen sich im Großen und Ganzen recht gut. Herr Kaiser signalisierte Zufriedenheit, was sie als Zeichen auffassten, sich jetzt ein wenig treiben lassen zu können. Das nächste Stück lief katastrophal. Unser Chorleiter wurde verständlicherweise wütend, woraufhin die Knaben sich wieder Mühe gaben. Sofort schlugen sie sich wieder gut. Auf diese Weise bestand zumindest eine Hälfte unseres Auftritts aus beachtlichen Leistungen.
Zu den Stücken, die gut liefen, zählte natürlich Ubi Caritas von Duruflé, aber erstaunlicherweise auch Auferstehn, ja Auferstehn wirst du. Dabei handelte es sich um einen reinen Knabensatz. Herr Kaiser hatte ihn für einen irgendwann im Sommer gedrehten Dokumentarfilm über Gustav Mahler einstudiert. Den Entschluss, ihn auch darüber hinaus zu verwenden, hatte er wohl aus ökonomischen Gründen gefällt. Probenarbeit musste sich schließlich immer so gut wie möglich bezahlt machen. Seine Entscheidung stellte sich aber zumindest jetzt als überaus weise heraus. Die Knaben sangen so gut, dass selbst Max-Frederick im Anschluss an den Auftritt lobende Worte darüber verlor.
Einen vergleichbar bleibenden Eindruck hinterließ die musikalische Darbietung des Kantors. Allerdings aus anderen Gründen. Sein Gesang und sein Spiel waren ein überschwängliches wie hauchig klingendes Spektakel, bei dem kein Auge trocken bleiben konnte. Uns befiel wieder einmal der für diese Reise so typische orgiastische Lachanfall. Zwar hielten wir uns dabei die Münder zu, der Mann dürfte unsere Reaktion auf sein Spiel dennoch mitbekommen haben. Er saß keine drei Meter von entfernt. Zudem war der Spieltisch der Orgel ungewöhnlicherweise nicht an der Rückwand der Empore angebracht, sondern an einer Vorrichtung mitten auf ihr. Uns hatte man um diese Vorrichtung herum platziert. Immer dann, wenn der Kantor einmal nicht auf seine Noten sah, befanden wir uns in seinem Blickfeld. Er ließ sich aber von unserem Gelächter nicht stören, sondern sang und spielte überschwänglich wie hauchig klingend weiter. Eine Szene, die ich liebend gerne festgehalten hätte. Wer konnte schon sagen, wann ich wieder ein solches Konzerterlebnis haben würde. Und wenn Prag weiterhin Eindrücke in so dichter Abfolge bot, würde wohl selbst ich eine Gedächtnisstütze benötigen.