Thronfolger
Perlen von Holstein Folge 175
«Verdammte Axt!», hörten wir Zwergo brüllen.
Wir kicherten.
Wenn Zwergo nämlich rief: ‹Verdammte Axt!›, konnte das nur zweierlei bedeuten. Entweder hatten einer oder mehrere Knaben etwas getan, von dem sie ganz genau wussten, dass es verboten war. Oder einer oder mehrere Knaben hatten etwas getan, das zwar nicht verboten war, von dem sie aber hätten wissen müssen, dass es deshalb noch lange nicht erlaubt war.
‹Verdammte Axt!›, rief Zwergo, obwohl er nie wirklich sauer auf irgendeinen Knaben war. Er wollte sich auf diese Weise einfach nur die notwendige Geltung verschaffen. Wie schnell einem die Knaben ansonsten auf der Nase herumtanzten, wussten ja nicht nur wir. Auch Marc hatte es immer wieder erlebt. Und Marc war es, dessen Nachfolge Zwergo angetreten hatte. Nicht in seiner Rolle als Vorstandsvorsitzender, aber in der als Chor-Aufpasser. Zwergo hatte diese Aufgabe vor allem deshalb übernommen, weil es sonst niemanden gab, der für sie in Frage kam. Man konnte sich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass er Gefallen an ihr fand.
«Verdammte Axt!», hörten wir ihn abermals brüllen.
Das Brüllen drang aus dem Glücksburger Probenraum. Für uns ein Grund, uns auf dem Weg dorthin ein wenig zu beeilen. Wir wollten doch schließlich wissen, was die Knaben schon wieder angestellt hatten.
Als wir eintraten, sahen wir schnell, worum es einmal mehr ging, einmal mehr gehen musste: Seit geraumer Zeit war es üblich, dass von offizieller Seite eine Palette Mineralwasser mit zu Chorfahrten genommen wurde. Die Knaben wurden ausdrücklich angehalten, sich reichlich daran zu bedienen. Zum Trinken sollten sie aber in jedem Falle nur den mit ihrem jeweiligen Namen beschrifteten Plastikbecher benutzen. Ging ein solcher Plastikbecher kaputt, war natürlich für Ersatz gesorgt. Dieser Ersatz war aber nicht unbegrenzt, weshalb mutwillige Zerstörung strengstens untersagt war. Mutwillige Zerstörung von Plastikbechern war es aber, was die Knaben hier vor Zwergos Eintreffen eindeutig betrieben hatten. Das war kein Kavaliersdelikt, sondern eine Straftat, die weitreichende Folgen haben konnte. Zwergo machte dies in der nun folgenden Standpauke deutlich.
«Dann sind demnächst alle Becher kaputt! Und dann süffelt ihr aus den Flaschen! Und dann seid ihr nächste Woche wieder alle krank!», brüllte er. Guido, Philipp und ich kicherten.
«Das ist nicht komisch», zischte Zwergo uns zu. Es war deutlich zu hören, dass er sich selbst kein Wort glaubte. Man konnte sich, wie gesagt, des Eindrucks nicht erwehren, dass er Gefallen an seiner neuen Aufgabe fand.
Der Abend brachte eine Premiere: Vier Monate war es her, dass wir Männer uns mehr oder weniger von uns aus dazu bereit erklärt hatten, Betreuungsaufgaben für die Knaben zu übernehmen. Nun befand Herr Kaiser, dass es an der Zeit war, unseren Worten Taten folgen zu lassen. Jeder von uns bekam ein Knabenzimmer zugewiesen, in dem er für Ruhe zu sorgen hatte. Von dieser Pflicht ausgenommen war nur ich. Unser Chorleiter fand es wohl doch etwas zu gewagt, mich mit einer derartigen Aufgabe zu betrauen. So verbrachte ich den ersten Teil des Abends mit Davids Vater im Freizeitraum der Jugendherberge.
Davids Vater hatte Marcs Nachfolge als Vorstandsvorsitzender angetreten. Er hatte das, soweit ich wusste, vor allem getan, weil es sonst niemand hatte tun wollen. Ob er Gefallen an dieser Rolle fand, wusste ich nicht zu sagen. Zwar konnte der Mann auf eine durchaus beachtliche Laufbahn als Chorsänger zurückblicken, doch für eine aktive Mitgliedschaft bei uns war er dann wohl doch ein wenig zu alt. Er war Pensionär. Ich traf ihn heute zum ersten Mal. Weil er über gewisse Dinge nun einmal im Bilde sein musste, war er angereist.
Der erste Eindruck, den ich von ihm gewann, war der, dass er sich gut gehalten hatte. Seine Haltung war kerzengerade, seine Schultern wirkten breit und sein Händedruck war auffallend kräftig. Man hätte ihn für einen Seemann halten können, aber nein, der Mann war Schulleiter an einer Gesamtschule gewesen. Ein Posten, um den ich ihn nicht beneidete, was ich ihm auch sagte.
«Ach, Lennart, weißt du», sagte er, «natürlich hatte ich auch ganz viel mit einer bestimmten Sorte Schüler zu tun. Aber wenn die dann erst mal vor dir als Rektor stehen und du die in einer bestimmten Weise ansprichst, sind die doch oft überraschend schnell so klein mit Hut.»
So freundlich, ja, gelassen-altersweise, wie er redete, konnte ich mir kaum vorstellen, dass er jemanden ‹in einer bestimmten Weise› ansprechen konnte. Aber wer wusste schon, wie er Schülern gegenüber aufgetreten war. Wer Marcs Jähzorn gegenüber revoltierenden Knaben erlebt hatte, konnte sich schließlich auch nur schwer vorstellen, dass er im Kreise von Erwachsenen durchaus humorvoll gewesen war. Ich würde es aber wohl nie erleben, dass Davids Vater ‹in einer bestimmten Weise› zu jemandem sprach. Die Stunden, die er bereits in Glücksburg war, hatte er sich vollkommen im Hintergrund gehalten. Aus gutem Grunde: Er war schließlich nur Vorstandsvorsitzender, nicht Chor-Aufpasser. Viel mit ihm zu schaffen haben würden wir aller Voraussicht nach nicht. Auch Marc hatte seinen internen Ruhm letztlich vor allem seiner aktiven Mitgliedschaft zu verdanken gehabt. Wäre er nur Vorstandsvorsitzender und nicht auch Chor-Aufpasser gewesen, ich hätte wohl jahrelang nicht einmal gewusst, wie er heißt.
Davids Vater und ich hatten viel Zeit, uns zu unterhalten. Die anderen Männer ließen auf sich warten. Es war offenbar doch keine so leichte Aufgabe, in einem Knabenzimmer für Ruhe zu sorgen. Nach rund einer Dreiviertelstunde saßen wir immer noch alleine. Ich hatte unser Gespräch mittlerweile in Bahnen gelenkt, in die ich Gespräche mit Erwachsenen für gewöhnlich eher nicht lenkte.
«Was Computerspiele angeht, bin ich durchaus nicht unerfahren», sagte Davids Vater, «David spielt ja sehr viel dieses Warcraft. Und als wir vor zwanzig Jahren unseren ersten Computer hatten, da habe ich mal eine Zeit lang gerne Tetris gespielt. Man kann ja doch unglaublich in sowas versinken. Nachdem ich mal aber wirklich mal einen ganzen Nachmittag mit nichts anderem verbracht habe, habe ich damit aufgehört. Denn, mal ehrlich: Was habe ich in der ganzen Zeit eigentlich geschafft?»
Ich kam nicht in die Verlegenheit, diese Frage beantworten zu müssen. Die anderen Männer stießen zu uns. Offenbar herrschte in den Knabenzimmern jetzt Ruhe. Trotz aller Mühen freute sich David schon, morgen Abend wieder für Ruhe sorgen zu dürfen.
«Ach, das war eigentlich ganz lustig», sagte er, «Ich habe den Knaben gesagt: ‹Wenn ihr ruhig seid, erzähl’ ich euch eine Horrorgeschichte›, und dann waren die wirklich ganz schnell ruhig.»
«Hast du ihnen Mordbett erzählt?», fragte ich. Mordbett war jene Geschichte, mit der David mich bei unserem ersten gemeinsamen Chorwochenende um den Schlaf gebracht hatte.
«Nein, hehe», erwiderte David, «Ich habe ihnen das aber für den letzten Abend in Aussicht gestellt, wenn sie sich gut benehmen.»
David wusste wirklich, wie man Kinder diszipliniert.
Gemeinsam mit Davids Vater spielten wir in großer Runde das Kartenspiel Rage. Trotz des verheißungsvollen Namens blieben Orgien aus. Ein Kartenspiel, ob es einen nun in Rage versetzen soll, oder nicht erforderte nun einmal die Einhaltung von Regeln. Und unsere Orgien gründeten sich zumeist auf den systematischen Verstoß gegen Regeln. So wurde dieser Abend erst lustig, als Davids Vater ins Bett ging und Zwergo sich nicht mehr beobachtet fühlte. Quereinsteiger Lars griff zur Gitarre und die beiden sangen Marzipan der Monsters of Liedermaching. Bei diesem besingt ein Mann auf die Melodie von Lady in Black seine vom vielen Marzipankonsum verursachten Zahnschmerzen. Es handelte sich mit anderen Worten um eine Parodie. Zu den genreüblichen spitzfindigen Reimen gesellen sich noch viel spitzfindigere Einbeziehungen des berüchtigten Refrains. Dieser geht bekanntermaßen so:
«Na Fred-Tim aus Hamburg, wo tut’s denn jetzt eigentlich noch weh», sagte Zwergo.
«Da-a-a-a-a-a-a-a-a!», sang Lars.
«Äh, hier?»
«Ja-a-a-a-a-a-a!»
Wir lachten Tränen. Mochte sein, dass Zwergo den Knaben gegenüber jetzt Chor-Aufpasser war. Uns gegenüber war er auch weiterhin Zwergo.