Schau, lieber Gott, wie meine Feind’
Perlen von Holstein Folge 188
Von Erwartungsfreude konnte kaum die Rede sein, als ich mich von meiner Mutter in den kahlen, weißen Raum führen ließ. Meine Vermutungen fanden dann auch sogleich Bestätigung.
«Mama, dieses Zimmer ist kleiner als mein altes.»
«Das ist größer, Lennart.»
«Willst du mich verarschen? Das ist eindeutig kleiner, das sieht man doch sofort.»
«Das kommt dir jetzt nur so vor, weil die Sachen noch nicht drinstehen.»
«Ja, natürlich. Weil leere Räume einem ja auch kleiner vorkommen als volle. Du hältst mich wohl echt für total bescheuert, oder?»
«Nun warte doch erst mal ab.»
‹Nun warte doch erst mal ab.› Worauf denn? Darauf, dass sich die Wände nach außen schoben? Dieser Raum hier war winzig klein und er würde es auch bleiben. Mein altes Zimmer war mindestens ein Drittel größer gewesen. Wie in drei Teufels Namen sollten hier überhaupt alle meine Möbel hineinpassen?
Meine Möbel passten alle hinein, allerdings mehr schlecht als recht. Als alles an seinem Platz stand, war von den Wänden nicht mehr viel zu sehen. In der Mitte stand mein Tisch und unterteilte den Raum in zwei schmale Gänge: Einen vom Bett zur Tür und einen vom Bett zum Computer. Die Kleiderschranktüren ließen sich tatsächlich ebenso noch öffnen, das hatte ich bereits ausprobiert. Mit den Zuständen zufrieden war ich deshalb aber noch lange nicht.
«Mama, dieses Zimmer ist kleiner!»
«Es ist größer, Lennart.»
«Es ist kleiner, Mama.»
«Das ist nicht kleiner, Lennart. Das ist nur anders geschnitten», sagte mein Vater, wie immer sofort zur Stelle, wenn meiner Mutter mal wieder die Argumente ausgingen.
Formal gesehen hatte er recht: Die in den Unterlagen angegebene Quadratmeterzahl dieses Zimmers war größer als die meines bisherigen. Das lag aber vor allem daran, dass sich jenes unterhalb der Dachschräge befunden hatte. Bei der Feststellung der Größe war deshalb mit halben Quadratmetern gerechnet worden. Die Dachschräge hatte mich jedoch nie gestört. Die mit ihr verbundenen Einschränkungen bei der Raumgestaltung waren mir vollkommen gleichgültig gewesen. Entscheidend war für mich der zur Verfügung stehende Platz gewesen. Und der hatte, so ganz anders als jetzt, stets ausgereicht.
Meine Mutter war dennoch auch weiterhin überzeugt: «Dieser Raum ist größer.»
Eigentlich hätte ich keinen Grund gehabt, mich noch darüber aufzuregen. Es war letztlich nur ein weiterer absurd-erbärmlicher Versuch, mir eine Sache als vorteilhaft zu verkaufen, die in jeder Beziehung nachteilig für mich war. Ich regte mich aber auf und zwar gewaltig. Mit voller Wucht schleuderte ich die Tür zu. Meine Mutter reagierte mit den üblichen Drohungen, mich auf die Straße zu setzen. Wie immer, wenn ihr sonst nichts mehr einfiel.
Fünf Jahre war es her, dass meine Mutter zum ersten Mal den Wunsch geäußert hatte, umzuziehen. Wie es so ihre Art war, hatte sie mir von vornherein unterstellt, diesen Wunsch zu teilen. Wie es so meine Art war, hatte ich ihr überdeutlich klargemacht, dass dies nicht der Fall war. Sie hatte dabei stets von einem Umzug innerhalb Finkenwerders gesprochen; näher an den Anleger heran, sodass wir schneller zur Fähre kamen. Schon das hatte ich kategorisch abgelehnt. Ich wollte in kein anderes Haus. Ich war mit dem damaligen hochzufrieden gewesen. Einen anderen Weg wollte ich schon gar nicht. Als meine Mutter mir vor zehn Monaten eröffnet hatte, dass wir in einen anderen Stadtteil ziehen würden, hatte sie mir dennoch von vornherein unterstellt, ihre Begeisterung zu teilen. Welch kolossaler Irrtum.
«Ja, geil, Mama. Dann darf ich während der Abi-Prüfungen jeden Tag eine Stunde zur Schule fahren.»
«Ach, die Abi-Prüfungen sind doch schnell vorbei. Und zum Chor hast du es dann viel kürzer.»
«Der Chor ist aber einmal die Woche. Zur Schule muss ich von Montag bis Freitag. Vor allem: Als ich jeden Tag Chor, Klarinette oder irgendwelchen anderen Scheiß hatte, hat es dich auch nicht interessiert, dass ich so lange fahren musste.»
«Aber Schule ist doch nur noch ein halbes Jahr. Du wirst die Vorzüge schon noch zu schätzen lernen, Lennart.»
«Mama, du erzählst mir sonst andauernd, dass du mich nach dem Abi rausschmeißen wirst, also laber keinen Scheiß!»
Die Sache war klar: Von der Lage unseres neuen Hauses war ich nicht zu überzeugen, ganz einfach, weil die Nachteile deutlich überwogen. Ich war aber auch nicht derjenige, um den es meiner Mutter ging. Nach eigenen Angaben tat sie das alles meinem Vater zuliebe. Der hatte bislang einen Arbeitsweg von rund zwei Stunden gehabt. Nun war dies bestimmt seit fünfzehn Jahren der Fall. Länger also, als wir überhaupt in Finkenwerder gelebt hatten. Ihre Fahrtzeit zur Arbeit hatte hingegen eine halbe Stunde betragen. Seit einigen Monaten aber arbeitete sie in der Nähe des U-Bahnhofs Schlump. Von Finkenwerder dorthin zu gelangen dauerte rund fünfundfünfzig Minuten. Zehn Minuten weniger als mein Weg zu unserem alten Probenort, der Handelsschule Kellinghusenstraße. Mich wie einen Aufsässigen zu behandeln war von daher nur richtig. Zudem hatte meine Mutter bei jeder Diskussion angemerkt: «Dein neues Zimmer ist größer als dein altes.»
Von diesen Worten war sie tatsächlich überzeugt. Das belegten schon ihre zahlreichen Versuche, mich dazu zu bewegen, das neue Haus mit ihr zu besichtigen. Ohne Zweifel wäre mir die geringe Größe meines Zimmers dabei sofort ins Auge gesprungen. Sie konnte von daher froh sein, dass ich auch das kategorisch abgelehnt hatte. Ich hatte unser neues Haus nicht sehen wollen. Ich hatte in Finkenwerder bleiben wollen. Sicher, was einem dort an einer Mentalität geboten wurde, war eine Symbiose aus Spießbürgertum und Proletariat. Was nur im Mindesten intellektuell war oder zu sehr von der Norm abwich, wurde abgelehnt. Ein Mensch wie ich konnte dort nicht glücklich werden. Dennoch hatte ich den Stadtteil mit seinen beschaulichen Häusern, seinen Gräben und Deichen liebgewonnen. Zudem war es unzweifelhaft so, dass Finkenwerder außerhalb unseres Hauses begonnen hatte. Und ich hielt mich nun einmal größtenteils drinnen auf. Was also interessierte mich die Geisteshaltung derer, die auf der Straße herumliefen?
Meine Mutter aber würde wahrscheinlich erst Ruhe geben, wenn ich ebenso der Meinung war, dass meine Ablehnung alleine auf Halsstarrigkeit beruhte. Ich konnte wirklich froh sein, dass ich in diesen Tagen nicht allzu viel Zeit zuhause verbringen würde. Es war Weihnachten und da hatten wir an allen Wochenenden Konzerte. Heute würde es mal wieder nach Ramelsloh gehen. Jener Ort, in dessen Kirche ich mich vor zwei Jahren das ganze Konzert lang über den Schrank im Altarraum totgelacht hatte. Ob das heute wieder so sein würde? Ich hatte da meine Zweifel. Doch was interessierte mich das? Entscheidend war, dass ich meiner neuen Heimstatt vorübergehend entfliehen konnte.
Ich stülpte mir den Anzug über und trat auf die Straße. Dort war kaum ein Mensch zu sehen und ebenso kaum ein Auto. Doch der Schein trog: Nicht weit von hier entfernt kreuzte die A7 die Kieler Straße, eine von Hamburgs Hauptverkehrsadern. Unser neues Haus befand sich in Stellingen. Ein Stadtteil, der vielen Hamburgern und Nichthamburgern wohl vor allem für seine S-Bahnstation bekannt war. Von ihr gelangte man zu dem, was einmal Volksparkstadion geheißen hatte. Heute nannte es sich AOL Arena oder HSH Nordbank Arena oder so ähnlich. Mich interessierte das nicht. Ich wollte zu besagtem S-Bahnhof, um nach Diebsteich zu gelangen, was zwei Stationen weiter lag. Nicht weit von dort entfernt befand sich die Wohnung Zwergos. Er holte mich mit dem Auto ab.
In der Stiftskirche Ramelsloh angekommen, hatte ich schnell Gewissheit: Ich fand den Schrank hinter dem Altarraum nicht mehr komisch. Ich sah ihn und wusste sofort wieder, was ich damals an ihm so lustig gefunden hatte. Ich fand das durchaus auch noch immer nachvollziehbar. Lachen konnte ich dennoch nicht. Und ich wusste, dass das nichts mit meiner momentanen Lebenssituation zu tun hatte. Manche Dinge schienen mit den Jahren einfach verloren zu gehen.
Das Konzert vermochte meine Stimmung ebenso wenig aufzuhellen. Es folgte wieder einmal dem bekannten Muster. Beim Jauchzet dem Herren von Schütz ließen sich die Knaben treiben. Die vom Sopran alleine gesungene Passage ‹Ehre sei dem Vater› geriet infolgedessen so schief, dass ich beinahe auf offener Bühne zusammenzuckte. Herr Kaiser machte einen unmissverständlichen Gesichtsausdruck, die Knaben rissen sich zusammen, das folgende Stück lief besser.
Wieder in unserem neuen Haus angekommen, wurde ich sogleich von meiner Mutter in Empfang genommen. Sie schien inzwischen eingesehen zu haben, dass mein neues Zimmer nicht größer war als das alte. Um trotzdem endlich recht zu haben, verlagerte sie kurzerhand das Schlachtfeld.
«Lennart, du räumst jetzt sofort dein Zimmer auf. Wenn da weiterhin die Sachen überall rumliegen, kommen noch die Ratten.»
Jetzt hatte ich aber endgültig die Schnauze voll.
«Mama, die Sachen liegen deswegen überall rum, weil in dem scheißkleinen Raum nirgendwo Platz ist! In dem alten Zimmer lagen die übrigens auch rum, da fiel das nur nicht so auf, weil das viel größer war.»
«Doch, da fiel das auf, da haben wir nur nichts gesagt, weil du da ja sowieso nicht mehr lange wohnen würdest. Du räumst jetzt auf!»
«Und wo soll ich das ganze Zeug hin packen? Die Schränke und Regale sind voll, Mama!»
«Na, bei den Computerspielen kannst du doch zum Beispiel mal überlegen, ob du die wirklich noch alle brauchst.»
Ein Vorschlag, so ungeheuerlich wie konsequent: Immer wieder hatte meine Mutter ganze Jahrgänge von Gamestar und PC Games entsorgt. Begründung: «Das überaltert doch alles so schnell.» Bei den Killerspielen selbst war sie vor solchen Maßnahmen bislang zurückgeschreckt. Wohl nicht aus mangelndem Willen, sondern eher aus mangelndem Wissen. Welche Spiele ich nur mal eine Zeit lang gespielt hatte und welche ganze Lebensabschnitte geprägt hatten, konnte sie doch gar nicht sagen. Geschweige denn, was alt und was neu war.
Ich räumte nicht auf. Stattdessen setzte ich mich an meinen Computer und hörte Musik. Erst Herr, wenn die stolzen Feinde schnauben aus dem Weihnachtsoratorium, dann Damage King. Jenes stammte aus dem Soundtrack des Killerspiels Universe at War und sein Name war Programm. Was man hier geboten bekam, war nicht weniger als eine Klang gewordene Zerstörungsorgie.
Als sie verklungen war, widmete ich mich dem Killerspiel Codename: Panzers – Phase Two. Es präsentierte einem den Zweiten Weltkrieg in einer Art und Weise, dass man sich wünschte, man hätte ihn miterleben dürfen. Den lieben langen Tag fuhr man mit seinen Kameraden durch die Gegend, lernte interessante Leute kennen und erlebte lustige Abenteuer. Zwischendurch erlebte man den Nervenkitzel einer Schlacht, ohne jedoch jemals ernsthaft um sein Leben fürchten zu müssen. Wohin die Reise ging, verriet schließlich schon die Titelmusik. Hatte die des ersten Teils noch von der Gnadenlosigkeit des Krieges erzählt, rief die zweite selige Erinnerungen an die Zeiten hervor, als Opa mit seinen treuen Kameraden im Tigerpanzer durch die malerische Normandie geheizt war. Welch schöne Zeit sie doch verlebt hatten. Es konnte einem Tränen der Rührung in die Augen treiben.
Wie lange war es her, dass ein Killerspiel mich in derartige emotionale Zustände versetzt hatte? Eine gefühlte Ewigkeit. Vielleicht war es mir die ganze Zeit zu gut gegangen.