Ein stummer Zeuge
Perlen von Holstein Folge 192
März 2008
Seit rund eineinhalb Jahren war Akiras Vater ein häufiger Gast bei unseren Konzerten, Ausflügen und Reisen. Ein gern gesehener war er durchaus auch, allerdings nicht immer. Grund war seine Spiegelreflexkamera. Sie erzeugte einen gewaltigen Blitz, der die Augen auf Dauer schon ein wenig reizen konnte. Ernsthaft böse sein mochte ihm deswegen jedoch keiner. Der Mann war alles andere als ein Paparazzo. Er war immer höflich, immer zurückhaltend, immer ganz auf seine Arbeit konzentriert.
Herr Kaiser schätzte die Dienste des Mannes wohl. Er betonte, dass Akiras Vater als professioneller Fotograf einen viel besseren Blick für den passenden Moment hatte, als unsereiner ihn jemals haben könnte. Nichtsdestoweniger fühlte auch er sich von dem Tun des Mannes zuweilen gestört. Grund war weniger der gewaltige Blitz, sondern das Klicken des Auslösers. Sobald unser Chorleiter nämlich probte, war er außerordentlich geräuschempfindlich.
«Können Sie das mal bitte einen Augenblick lassen? Das stört gerade», sagte er dann.
«Wann kann ich denn wieder?», fragte Akiras Vater höflich.
«Nicht jetzt auf jeden Fall.»
Unser Chorleiter zeigte sich dennoch begeistert, als er verkündete, dass Akiras Vater ein unentgeltliches Fotoshooting mit uns veranstalten wollte. In seiner Ankündigungs-E-Mail stellte er fest, dass wir dem Mann für dieses Geschenk nicht dankbar genug sein könnten. Aus eigener Tasche könnte der Chor es niemals bezahlen.
Sechs Stunden sollte das Fotoshooting dauern. Für Aufnahmearbeiten eine typische Länge, wie ich wusste. Als Kulisse sollte der Große Studiosaal im Haus der Jugendmusikschule dienen. Anders als sonst sollten wir jedoch nicht in den Stuhlreihen Platz nehmen, sondern auf einem eigens für diesen Anlass aufgebautem Chorpodest. Wir trugen Alltagskleidung. Chorpullover und Anzüge sollten erst nach der Mittagspause zum Einsatz kommen.
Akiras Vater saß auf einem Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite des Raums. Er blickte abwechselnd zu uns und auf das Display eines Laptops. Seine daran angeschlossene Kamera thronte auf einem Stativ. Hin und wieder stand er auf und verrückte sie. Die meiste Zeit aber saß er. Er hielt sich mit anderen Worten vollkommen im Hintergrund. Mittelpunkt war auch heute Herr Kaiser. Der stellte dennoch klar, dass das hier ausdrücklich ein Fototermin war und keine Probe.
«Ich werde nicht mit euch proben. Ich werde euch nur singen lassen», sagt er.
Philipp und ich nahmen eine lachkrampftaugliche Sitzposition ein. Was jetzt passieren würde, war schließlich abzusehen: Zwei vollkommen verkorkste Einsätze später probte Herr Kaiser doch.
Derweil unser Chorleiter mächtig mit uns schimpfte, saß Akiras Vater stumm da. Lediglich einmal richtete er das Wort an uns. Er bat einige, die Plätze zu tauschen, darunter Philipp und mich. In der Pause erläuterte er mir auf mein Nachfragen hin die Gründe.
«Philipp trägt einen hellen Pullover, auf dem man den Schatten seines Vordermanns erkennen kann. Das stört den optischen Gesamteindruck. Deswegen wollte ich, dass ihr die Plätze tauscht.»
Weil Akiras Vater so höflich war und auch Herr Kaiser sich bald beruhigt hatte, verliefen die ersten Stunden unspektakulär. Höhepunkt des Tages schien die Pause zu sein. Wir verbrachten sie im Allegro, dem Café der Jugendmusikschule. Frans und ich sangen Lieder von den Prinzen.
«Mein Hund ist schwul, die dumme Sau. Er macht nicht kläff, er macht nur wau –»
David und Philipp konnten leider nicht mitsingen. Sie kannten das Lied nicht. Der große Spaß blieb deswegen aus.
Nach der Pause schlüpften wir in unsere Chorkleidung. Die Fotos, die nun von uns gemacht wurden, sollten einen Konzerteindruck vermitteln. Eigentlich ein Anlass, uns in Ernst zu üben. Einige Soprane dachten jedoch nicht daran. Als wir alle wieder auf dem Podest standen, fingen sie unvermittelt an, Hejo! Spann den Wagen an zu singen. Die übrigen Knaben stimmten rasch mit ein. Wir Männer ließen Standesdünkel heute Standesdünkel sein und sangen ebenso mit. Herr Kaiser war begeistert.
«Wunderbar und jetzt dreistimmig», sagte er.
Wir sangen den Kanon fünf Minuten lang dreistimmig.
«Okay, und jetzt geflüstert.»
Wir flüsterten den Kanon fünf Minuten lang.
«Und jetzt nur auf den Vokal O.»
Wir sangen den Kanon fünf Minuten lang nur auf den Vokal O.
Und so war es tatsächlich passiert: Zum wohl ersten Mal, seitdem ich Bass war, hatten nicht wir Männer einen Klassiker geschaffen, sondern die Knaben. Was hier passierte, war schließlich nicht weniger als ein kollektiver Rausch. Mit jeder Wiederholung des Stücks gerieten wir tiefer in ihn hinein. Herr Kaiser schien ebenso kaum zu bremsen zu sein.
Wie die Knaben wohl ausgerechnet auf Hejo! Spann den Wagen an gekommen waren? Es war ein Vorchor-Klassiker der Siebenkittel-Ära. Im Gegensatz zu Auf einem Baum ein Kuckuck saß hatten wir es jedoch eher selten angestimmt. Es war einfach nicht bescheuert genug, um ein Reisebus-Standard zu sein. Ich verband zudem höchst beschämende Erinnerungen damit. In der achten Klasse hatten wir uns einmal zu Gruppen zusammenfinden und einen Rap-Song ersinnen sollen. Meinen beiden Gruppenmitgliedern und mir war jedoch keiner eingefallen. Ein herumliegendes Notenblatt von Hejo! Spann den Wagen an war schließlich unsere Rettung gewesen. Wir hatten den Text kurzerhand zu He, ho, mach den Porsche an umgedichtet. Was dem gefolgt war, stellte einen Grund dar, mein elefantöses Gedächtnis zu verfluchen.
Akiras Vater hatte dem Spektakel stumm beigewohnt. Auch, als es schließlich doch zu Ende war, sagte er nichts. Er betrachtete lediglich die Fotos, die er davon gemacht hatte. Es waren gewiss mehr als genug.
Auf dem Nachhauseweg traf ich ihn in der S-Bahn.
«Und? Sind Sie zufrieden mit den Fotos», fragte ich.
«Naja, eher nicht so zufrieden. Ich finde die meisten eher mittelmäßig.»
«Wirklich? Also, was ich gesehen habe, fand ich sehr gut. Tausend Mal besser als das, was wir bisher so an Chorfotos hatten.»
Ich meinte das durchaus aufrichtig und fand, dass es auch so klang. Wohl deshalb erklärte Akiras Vater, wie er zu seiner Auffassung kam.
«Hm, also das ist so: Du kennst das doch sicher von Herrn Kaiser, dass er nie wirklich zufrieden ist, sondern immer noch etwas Besseres will. Selbst, wenn alle anderen Leute schon sagen würden: ‹Das ist perfekt, besser geht es nicht. Besser muss es auch gar nicht sein.› Er will es aber noch besser. Er weiß, dass es noch besser geht, dass er es noch besser kann. Genauso ist das mit mir als Fotograf. Ich weiß, dass das, was ich mache, den Leuten gefällt. Mir selbst gefällt es aber oft nicht. Ich sehe immer noch viele Sachen, die man besser hätte machen können. Ich bin erst dann zufrieden, wenn ich nichts mehr sehe. Das ist aber natürlich ganz selten der Fall. Deswegen mache ich immer weiter.»
Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Das erstaunliche Tempo, in dem Mozart seine Meisterwerke produzierte, fasziniert seine Hörer bis heute. Einmal jedoch musste ein Auftraggeber sich zunächst mit zwei statt der vereinbarten drei Flötenkonzerte begnügen. Mozart erklärte hierzu: ‹Hinschmieren könnte ich freylich den ganzen Tag fort; aber eine solche Sach kommt in die Welt hinaus, und da will ich halt daß ich mich nicht schämen darf, wenn mein Namm draufsteht.› Auch für einen Wolfgang Amadeus galt schließlich, was Frau Siebenkittel einst formulierte: ‹Ich bin jetzt zufrieden, aber ich möchte begeistert sein!›