Vergangen ist mir Glück und Heil

Perlen von Holstein Folge 206

30. August 2008

Mein letzter Tag im Neuen Knabenchor Hamburg war gekommen. Statt zur St.-Gertrud-Kirche fuhr ich jedoch zuerst einmal zu David. Der hatte mich eingeladen, mit ihm noch ein letztes Mal das Killerspiel Super Smash Bros. Melee zu spielen. Anschließend wollte er mir einen Imbiss zeigen, bei dem es die nach seinem Empfinden beste Currywurst der Stadt gab. David mit anderen Worten daran gelegen zu sein, mir meinen Weggang so schwer wie möglich zu machen.

Als ich um etwa zehn Uhr Davids Zimmer betrat, lag mein alter Freund noch im Bett. Es brauchte einiges an Überzeugungsarbeit, ihn zum Aufstehen zu bewegen. Widerwillig erhob er sich und schaltete seinen GameCube ein. Die Menümusik von Super Smash Bros. Melee erklang. Sie hüllte den Raum sogleich in eine dichte Stadion-Atmosphäre. Man konnte ihn bereits spüren, den Nervenkitzel des bevorstehenden Kampfes. David nahm es mit Apathie zur Kenntnis. Schlaftrunken griff er sich einen der beiden Controller, im Geiste willig, es mit mir aufzunehmen.

Ich wollte es ihm gerade gleichtun, als Davids Vater hereinkam. Der war mittlerweile seit über einem Jahr Vorstandsvorsitzender unseres Chors. Nach seinem Antrittsbesuch in Glücksburg hatte ich ihn häufig bei Konzerten gesehen, jedoch nur selten mit ihm gesprochen. Er schenkte mir dennoch sein freundlichstes Lächeln.

«So, bevor hier das Geballer wieder losgeht: Guten Tag, Lennart.» sagte er, «Und morgen beginnt dann für dich die Zukunft?»

«Ja, morgen zieh’ ich um nach Brandenburg. Übermorgen fängt dann mein Soziales Jahr an.»

«Oh, dann wünsche dir natürlich ganz viel Spaß und ganz viel Erfolg.»

Davids Vater sprach in dem wohlwollenden Tonfall, der für ihn so typisch war. Ich wunderte mich deshalb auch nicht über den Ausdruck ‹Geballer›. Für mich war das eines dieser Wörter, die Erwachsene eben gebrauchten, wenn sie von Killerspielen sprachen. Dann aber geschah etwas Unerwartetes. Die Miene von Davids Vater veränderte sich in einer Weise, zu der Age of Empires wohl gesagt hätte: ‹Davids Vater wechselte die diplomatische Haltung Ihnen gegenüber zu feindlich.› Es war indes nicht ich, dem er soeben den Krieg erklärt hatte. Mit bösen Augen fixierte er David. Ich konnte mich gerade noch darüber wundern, da ging das Geballer auch schon los.

«So. Und du: Räumst! Jetzt! Auf!», schrie Davids Vater.

«Oh, ich bin doch gerade eben erst aufgestanden, Mann», erwiderte David.

«Ja, nix: ‹Mann›!», schrie Davids Vater noch lauter, «Wenn du zu einer normalen Uhrzeit aufstehen und nicht bis Mittag in den Federn liegen würdest, hättest du das schon längst machen können. Du wusstest ganz genau, dass Lennart um zehn hier sein würde und du dann fix und fertig sein musst. Jetzt fang endlich an und: Mach! Diesen! Scheiß aus!»

Davids Vater deutete auf den Fernseher, aus dessen Lautsprechern noch immer die Menümusik von Super Smash Bros. Melee dröhnte. Eine vollkommen unnötige Geste. ‹Scheiß› gehörte ohne Zweifel zu den Wörtern, die Erwachsene gebrauchten, wenn sie von Killerspielen sprachen.

David torkelte zum Fernseher und schaltete ihn aus. Den GameCube ließ er hingegen laufen. Sein Vater war dennoch fürs Erste zufrieden. Er verließ den Raum. David räumte derweil auf dem Boden herumliegende Gegenstände in Schubladen und Schränke. Drei Minuten später hielt er sein Soll für erfüllt. Er schaltete den Fernseher wieder ein und nahm neben mir Platz.

«Oh, Mann», sagte er.

Der Auftritt seines Vaters hatte ihn ohne Zweifel nicht sonderlich aus der Bahn geworfen. Ich dagegen musste erst einmal schlucken. Schemenhaft erinnerte ich mich darin, was Davids Vater über seinen Beruf als Leiter einer Gesamtschule erzählt hatte: ‹Natürlich hatte ich auch ganz viel mit einer bestimmten Sorte Schüler zu tun. Aber wenn die dann erst mal vor dir als Rektor stehen und du die in einer bestimmten Weise ansprichst, sind die doch oft überraschend schnell so klein mit Hut.› Damals hatte ich mich gefragt, was er wohl damit meinte. Jetzt hatte ich keine Zweifel mehr. Vor allem aber wusste ich nun, warum David über die Erziehungsversuche von Lehrern, Hausmeistern und Marc stets nur müde hatte lächeln können.

Trotz alledem wurde jetzt Super Smash Bros. Melee gespielt. David fand sogar noch Zeit, sein Abschiedsgeschenk auf meinen iPod zu kopieren: Lieder von den Roving Bottles, Lieder von Subway to Sally und natürlich den Warcraft-II-Soundtrack. Ich sollte doch schließlich in der Ferne immer an unsere gemeinsamen Momente der Rebellion, der Rückwärtsgewandtheit und der Realitätsflucht denken. Anschließend fuhren wir zu Davids Lieblings-Currywurst-Bude und von dort zu St. Gertrud. Hier erwartete uns neben einer weiteren Socke eine erfreuliche Nachricht.

«Es gibt eine kleine Planänderung», sagte Herr Kaiser, «wir werden Ding! Dong! Merrily on High heute nicht am Schluss machen, sondern jetzt gleich.»

Ich wäre am liebsten in lauten Jubel ausgebrochen. Ding! Dong! Merrily on High war und blieb das von mir am meisten gehasste Weihnachtslied unseres Programms. Entsprechend wenig hatte mir die Vorstellung gefallen, dass es mein Abschiedslied sein würde. Das war nun vom Tisch. Hätte ich es nicht besser gewusst, ich hätte gemeint, dass Herr Kaiser diese Entscheidung mir zuliebe getroffen hatte. Er wusste, was ich von Ding! Dong! Merrily on High hielt. Jeder wusste das. Lämke nutzte gar die Pause, um zum Ausdruck zu bringen, wie sehr er sich für mich freute.

«Ist doch echt gut, dass Ding! Dong! jetzt nicht dein letztes Stück sein muss», sagte er. Er formte sein Gesicht zu jenem Lächeln, mit dem er immer ‹Wir müssen in einem normalen Tonfall kommunizieren› gesagt hatte.

«Wir müssen in einem normalen Tonfall miteinander kommunizieren», sagte ich deshalb.

«Das wird dich ewig an mich erinnern, was?», erwiderte er. Der Gedanke schien ihn irgendwie froh zu machen.

Ansonsten verlief mein letzter Tag als Mitglied des Neuen Knabenchors Hamburg genau wie die vorherigen. Wir sangen pflichtbewusst unsere Lieder, hin und wieder ging etwas gewaltig schief und Herr Kaiser verfiel in tiefe Verzweiflung. Zwischenfälle, die ich nach all den Jahren noch als aufsehenerregend empfunden hätte, blieben jedoch aus. Und so kam er dann doch überraschend schnell: Der Moment, in dem mein letzter Ton gesungen war.

«So, unsere nächste Probe ist dann am 23. September», sagte Herr Kaiser.

Die Knaben jubelten. Zwei von ihnen ein wenig zu laut.

«Die Probe am 23. findet auch ohne dich statt, Merlin. Die Probe am 23. findet auch ohne dich statt, Hannes», sagte Herr Kaiser.

Für mich taten sich hingegen gerade ungeahnte Möglichkeiten auf. Bis zum 23. waren es noch über drei Wochen. Eine verdammt lange Zeit. Nahmen wir jetzt einfach mal an, dass ich nach einer Woche in der Provinz Brandenburgs feststellte, dass es mir dort nicht gefiel. Dann könnte ich zum Knabenchor zurückkehren, ohne auch nur eine einzige Probe verpasst zu haben. Für die anderen wäre es, als wäre ich nie weg gewesen. Für mich wäre es, als wäre ich nie weggewesen. Das Leben würde weiter seinen gewohnten Gang gehen. Schon bald würden ich und alle anderen vergessen haben, welch grundlegende Änderungen einmal anzustehen schienen. Ich würde mein zwanzigstes und mein dreißigstes Mitgliedsjahr erleben. Knaben, die jetzt noch in der ersten Sopranreihe standen, würden erwachsen werden und selbst Kinder kriegen. Wir alle würden gemeinsam alt werden.

Natürlich wusste ich, dass es nicht dazu kommen würde. Es sich ganz fest vorzustellen, war aber ein schöner Trost.

Doch war ja noch gar nicht alles vorbei. David und ich hatten noch eine Wendeltreppe hinter uns zu bringen. Lustvoll nahm ich Anlauf und rannte los. An der Treppe angekommen, wurde ich bereits von David erwartet. Er stand dort an das Geländer gelehnt. Ich huschte an ihm vorbei und begann mein schändliches Treiben. Genüsslich torkelte ich die Stufen herab. Jede einzelne brachte mich näher an das unvermeidliche Ende.

Unten angekommen, fanden die ersten Verabschiedungen statt. Neben Imanuel wollte auch Joël mir noch einmal die Hand geben. Viel mehr als ein Tschüs brachte er indes auch heute nicht hervor. Welche Entwicklung es wohl noch mit ihm nehmen würde? So mancher, der als schweigsam galt, hatte es im Chor irgendwann zu einer erstaunlichen Redseligkeit gebracht.

Imanuel und Joël gingen ihrer Wege. Ich hingegen lief mit den verbliebenen Männern zum U-Bahnhof Mundsburg. Dort zwängten wir uns alle in einen Wagen. Anfangs bildeten wir noch eine große Gruppe, das änderte sich jedoch schnell. Mit jeder Station wurden wir weniger. Am Ende war außer mir nur noch Georg übrig.

«Mensch, Lennart, dass du irgendwann einmal nicht mehr im Chor sein würdest. Ich kann es immer noch nicht ganz fassen», sagte er.

«Naja, vielleicht komme ich in einem Jahr ja wieder.»

«Du musst auf jeden Fall im Herbst mit zum Chorwochenende fahren, okay?»

«Hm, mal sehen.»

Ich überlegte, ob das nicht vielleicht sogar eine ganz gute Idee war. Vom Freitag an dabei sein zu wollen, wäre vermutlich unrealistisch. Spätestens am Sonnabend müsste ich doch aber eigentlich mühelos dazu stoßen können. So lange dauerte die Fahrt von Brandenburg hierher ja nun nicht. Und die Reise würde sich lohnen. Zwei volle Tage lang würde alles wieder so sein, wie es einmal gewesen war.

Georgs Abschiedsschmerz verwunderte mich doch etwas. Sicher, wir hatten uns gut verstanden und gemeinsam eine Menge Spaß gehabt. Ich mochte ihn. Zu meinen engsten Freunden hatte er jedoch nie gezählt. Ein offenbar unnötiger Zustand, wie ich auf der Rückfahrt von Schloss Noer erfahren hatte. Unser Bus hatte die Kieler Straße durchquert. Sie führte an der Straße vorbei, in der meine Familie seit Dezember wohnte.

«Oh Mann, wenn der Busfahrer mich jetzt aussteigen lassen würde, könnte ich von hier nach Hause gehen», hatte ich an niemanden gerichtet gesagt.

«Ach, du wohnst hier, Lennart?», hatte Georg erwidert, «Ich dachte, du wohnst in Finkenwerder.»

«Nein, wir sind im Dezember umgezogen.»

«Ach Mensch, warum hast du nichts gesagt? Ich wohne hier ganz in der Nähe. Wir hätten gut mal am Wochenende was zusammen machen können.»

Ja, warum hatte ich Georg nicht von meinem Umzug erzählt? Vermutlich, weil er nicht danach gefragt hatte. Vermutlich, weil ich von mir aus nicht davon ausgegangen war, dass ihn das interessieren würde. Warum sollte sich jemand dafür interessieren, wo ich wohnte? Die Anzahl der Menschen, die ihre Freizeit mit mir verbringen wollten, ließ sich bekanntermaßen an einer Hand abzählen. Hätte ich nicht den Computer gehabt, sie hätte lange Zeit wohl bei null gelegen. So lautete zumindest die weit verbreitete Ansicht.

Für Georg war es nun ebenso an der Zeit, auszusteigen. Er reichte mir die Hand, machte eine angedeutete Umarmung und wiederholte noch einmal: «Beim Chorwochenende im November bist du aber wieder dabei, ja?» Dann stieg er aus. Somit war ich nun alleine.

Ich lehnte mich zurück und lauschte den elektronischen Stationsansagen: «Nächster Halt: Schlump» und «Nächster Halt: Emilienstraße» Ich lauschte und genoss, denn ich wusste: Wo ich ab morgen wohnen würde, gab es keine U-Bahn und keine elektronischen Stationsansagen. Dieses Stück Zivilisation würde es für mich womöglich erst wieder in einem Jahr geben. Wahrscheinlich würde es mir schon nach einer Woche ewig weit weg erscheinen und dann, wenn ich es wiederhatte, unglaublich fremd vorkommen. Ich hatte allen Grund, es zu genießen. Zwar hatte es mir auf Chorwochenenden in späteren Jahren nicht mehr gefehlt, doch so ein soziales Jahr ging ja doch ein wenig länger.

An der Haltestelle Osterstraße war auch für mich die Fahrt zu Ende. Ich stieg aus und trat über eine Treppe hinaus ins Freie. Der nächste Bus würde in drei Minuten fahren. Für mich auch heute wieder Grund genug, den Rest des Weges zu laufen. Nach acht Stunden des Stehens und des Singens stand mir der Sinn nach Bewegung und Gedankenversunkenheit.

Über die Schwenkestraße ging es zur Lappenbergsallee, die nach etwa dreihundert Metern zum Langenfelder Damm wurde. Auf seinen breiten Bürgersteigen war vor sechzehn Jahren das erste Ereignis geschehen, an das ich mich erinnern konnte. Mein Vater und ich waren auf dem Weg zur Bushaltestelle vom Regen überrascht worden und deshalb gerannt. Etwas, das damals häufiger vorgekommen war. Auch ansonsten war es wohl ein Tag wie jeder andere gewesen. Erst war ich im Kindergarten gewesen, dann bei der musikalischen Früherziehung. Zu letzterer war ich nicht gerne gegangen. Grund war das Saxophon gewesen. Angst und Bange war mir geworden beim Anblick des Schalltrichters. Groß war er mir erschienen. Groß genug, um hineingezogen zu werden. Was einen im Inneren dann erwartete, hatte ich mir nicht einmal ausmalen wollen. Nachts im Bett hatte ich mir vorgestellt, wie die Lichtschalter unserer Wohnung durch Schalltrichter von Saxophonen ersetzt worden waren. In jedem Raum gab es zwei. Einen runden und einen schlitzförmigen. Der runde diente als Eingang, der schlitzförmige als Ausgang. Bestieg man den runden Schalltrichter eines Raumes, kam man aus dem schlitzförmigen eines anderen wieder heraus. Dazwischen lag ein enger, rutschenartiger Tunnel, der mitten durch die Wand ging.

Es lag schon eine gewisse Ironie darin, dass die Straße, auf der ich meine Heimatstadt zum ersten Mal wahrgenommen hatte, die gleiche war, auf der ich heute Abschied von ihr nahm. Wie das Schicksal es zudem so wollte, waren mein Vater und ich auf der anderen Straßenseite und in die entgegengesetzte Richtung gelaufen. Man konnte nur hoffen, dass das kein böses Omen war. Nein, das war es sicher nicht. Ich würde ganz bestimmt nach Hamburg und zu meinem Chor zurückkehren. Die Zeit in Brandenburg würde vorübergehen und das womöglich schneller als ich dachte. Was war schon ein Jahr? Ich hätte mich wahrscheinlich kaum eingerichtet, da würde ich auch schon wieder gehen. Dazwischen würde nicht viel passieren. Was sollte schon passieren in einem Dorf mit siebzig Einwohnern?