Ehemaliger. Kommentar

Nun hat es mich also doch ereilt. Ich bin ein «Ehemaliger». Klar. Hätte ich mir auch schon selbst vor langer Zeit selbst eingestehen können. Schließlich bin ich ausweislich meines Sängerpasses am 1. April 1970 in den Hamburger Knabenchor St. Nikolai aufgenommen worden, aus dem dann später der Neue Knabenchor Hamburg hervorging. Das Singen im Knabenchor habe ich mit der Pensionierung von Brigitte Siebenkittel aufgesteckt. Lieber von selbst gehen, bevor man gegangen wird. Aber richtig gegangen bin ich nie. Fast scheint es mir, dass sich an jenem 1. April 1970 ein kleines Extra-Gen in mir angelegt hat. Hat mich eigentlich irgendetwas in meinem Leben mehr beeinflusst, als das Singen im Knabenchor? Kaum.

Der Knabenchor war 1970 geprägt von seinem Gründer Horst Sellentin, *1921, †1973, der wegen einer Kriegsverletzung am Arm vom Cello in das Gesangsfach wechseln musste. Viele Führungsmechanismen waren dabei der Kriegsund Vorkriegszeit entlehnt. «Burschenabende» und «Kameradschaftsabende» gab es auf den Chorfreizeiten. Aber der Knabenchor war deswegen kein Relikt aus brauner Vorzeit, keineswegs. Der Knabenchor war die Klammer über die Zeiten und verkörperte die vielen Tugenden, die singende Knaben auch heute noch verkörpern: Tradition, kameradschaftlicher Umgang, musikalische Leistung auf hohem Niveau, Liebe zur Musica Sacra und deren Pflege.

Anders war damals auch, dass die Knaben älter waren. Ist heute ein vierzehnjähriger Sopran oder Alt die große Ausnahme, war er 1970 fast der Regelfall. In meiner Chorliste von 1970 zähle ich von sechzig Knaben dreinundzwanzig, die zwischen vierzehn und sechzehn sind. Was aus dieser Zeit hat mich geprägt, was hat mein Knabenchor-Gen mit Leben erfüllt? Mein erstes Konzert am 5. Dezember 1970, Weihnachtsoratorium eins bis drei? Die Hamburger Zweitaufführung von Benjamin Brittens War Requiem im Michel unter dem legendären Hans Schmidt-Isserstedt im November 1972? Die vielen Predigten von Bischof Hans-Ott Wölber, die wir als Knaben hörten? Die Begegnung mit Krzysztof Penderecki 1973? Die Konzertreisen nach Rom, Stockholm, Uppsala, Reykjavik, London, Budapest, Jerusalem oder auch Berlin? Die Überreichung der silbernen Ehrennadel des Deutschen Sängerbundes im Jahre 1995?

Es sind wohl in erster Linie die Menschen, die Freundund Feindschaften. Wichtig ist dabei, dass die Freundschaften mit den Zeiten zugenommen haben und die Feindschaften ab. Und eine andere Sache habe ich auch im Knabenchor gelernt: Dinge zu einem gegebenen Zeitpunkt abzuliefern. Sachen auf den Punkt bringen. Jetzt ist Probe, jetzt ist Konzert, jetzt musst Du abliefern, was Du kannst. Das klappt auch in den anderen Situationen des Lebens. Darauf bin ich ein bisschen stolz. Und ich bin stolz darauf, dass ich ein klein wenig daran mitwirken durfte, dass wir im Jahre 2010 doppelt so viele singende Knaben in unserer schönen Vaterstadt haben, als das 1990 der Fall war.

So gesehen bin ich gerne ein Ehemaliger. Denn die Zukunft ist gesichert.