Das Jahr der Chorgründung
Für mich war es damals der wichtigste Moment in jenem Jahr. Begann doch – vielleicht ohne dass ich es in aller Konsequenz voraussah – eine spannende, schöne, erfüllte Zeit.
Während in der Welt der deutsche Tennisspieler Boris Becker Nummer eins der Weltrangliste wird, es eine totale Sonnenfinsternis von fast sieben Minuten Dauer gibt und Ajax Amsterdam den UEFA-Pokal gewinnt, findet in der Hamburger Handelsschule Kellinghusenstraße die erste Probe des Knabenchores mit fünfundzwanzig Sängern statt, dann benannt Neuer Knabenchor Hamburg.
Wir hatten eine große Aula zur Verfügung mit Flügel, einer kleinen Bühne sowie einer Empore für Solisten. Auf dem Parkett-Fußboden konnte man so schön rutschen - für einige Vorchorknaben eine wichtige Motivation zu kommen. Die Proben fanden dienstags und donnerstags statt, am Dienstag mit den Männern, die dann leider nach der Gesamtprobe in ein muffiges Klassenzimmer wechseln mussten, weil in der Aula dann eine Gruppe Sport-Spiel-Spaß herum hantierte, was wir alle nur unnütz und doof fanden.
Dann gab es noch einen Hausmeister, der uns zunächst sehr wohlgesonnen war, bestach ich ihn doch gleich mit Whiskey, und dessen schmalgesichtiges blasses Söhnlein in Puschen am Donnerstagnachmittag in die Aula kam, um mitzusingen. Aber er fand es vorm Fernseher besser. Als die Jungs Pause hatten, tobten sie natürlich durchs Haus, eine so schöne Terrasse zum Fußballspielen gab es nicht. Das behagte dem Hausmeister nun keineswegs, und wir waren nicht mehr die lieben Knaben, die an den Nachmittagen auch hart arbeiten, um sich auf Wettbewerbe vorzubereiten, wie ich ihm versuchte zu erklären, sondern nur ‹ganz schlimme Finger!› Ich stellte mich vor alle und sagte den Jungs: «Ihr könnt ihm das nächste Mal ruhig sagen: Und wer soll Ihre Rente bezahlen? Sagt ruhig, dass das von mir kommt!» Aber es hat sich leider keiner getraut.
Ohne die Mannschaft, die in den ersten Jahren dann alles mit in die Taufe hob wie Totto, Marc, Frau Hübbe, Herr Witte, Ehepaar Berkowitz sowie all die anderen treuen Jung-und Altmänner und alte und neue Knaben samt sehr engagierten und liebevollen Eltern hätte ich es wohl kaum geschafft, dieses neue Unternehmen zu starten und – auch zu halten!
Der Direktor Herr Sobirey, der uns ja gern an seine Schule holte, wörtlich: «so ein Juwel muss man doch aufnehmen!», hatte es in den ersten Jahren nicht so leicht mit uns – oder mir. Denn ich wollte nicht unbedingt das singen, was er sich vorstellte, an de Eck steit ’n Jung mit’n Tüdelband. Denn das war nicht mein Ding für meinen Chor, den ich doch weitgehend mit der für Knabenchor und gemischten Chor orientierten Literatur hören wollte. Dass ich auch gleichzeitig die Literatur für Männerchor lernen und lieben sollte, war mir nicht in die Wiege gelegt worden – wie gut, denn so geht man frisch an alles heran! So sangen die Männer auch 1994 bei unserem ersten Bundes-Chorwettbewerb mit, wo wir unter den ersten zwei Plätzen rangierten, was mir ein Stipendium vom Deutschen Musikrat einbrachte. Immerhin.
An der Jugendmusikschule – dann auch im neuen Gebäude - hatten wir dann aber gutes Spiel, weil Lennart Sobirey, der Sohn vom Chef, mitsang und dies recht anständig und wohl auch im ganzen gerne tat. So konnte der Vater sagen, ‹mein Sohn singt Bach› – das kam gut! Elite war nun angesagt. Und wir waren eine Art Aushängeschild für Gruppen an der Staatlichen Jugendmusikschule – fein! Was wir alles sangen und wohin wir reisten steht in allen Programmen und der Vita des Chors zum Nachlesen, Highlights: Israel und USA.
Aber dass es Knaben gab, die dort Freundschaften fürs Leben fanden, die jetzt ihr Studium oder auch ihren Beruf mit Musik oder Gesang bestreiten, die den Stimmwechsel ohne Probleme überwanden, wörtlich: «ja, bis zur Reise in die USA kann ich den Tenor üben!», es einen gab, der jahrelang nicht sprach, sondern nur sang, bis er eines Tages beides perfekter als mancher andere konnte, die ohne Probleme fast jedes Mal bei Jugend Musiziert mitmachten und oben mitmischten, die als Solisten auch Geld verdienen konnten, die auf dem Theater oder bei Werbe-Aufnahmen auch mal normal singen sollten, die neben der alltäglichen coolen Musik die klassische lieben lernten und mit der Stimme zum Teil absolut professionell umgehen konnten, die sich in der Schule nicht trauten zu sagen, dass sie in einem Knabenchor singen, weil das alle weibisch fanden, und dennoch jahrelang die Treue hielten, zum Schluss: es einen gab, der bei meinem Abschied zu seiner Mutter sagte, als ich alle einlud, wenn sie Fragen hätten zum Singen oder Chor oder was auch immer, meine Tür stünde ihnen immer offen: «Du, Mama, bei Frau Siebenkittel steht die Tür immer offen!»
Das alles ist für mich von einer Nachhaltigkeit, die für so ein Gebilde wie ein Chor lebenswichtig ist. Dafür bin ich dankbar!
In diesem Sinne wünsche ich dem Chor viele weitere gute Jahre.
Brigitte Siebenkittel