Unerwarteter Tonartwechsel

Perlen von Holstein Folge 5

September 1997

Im Hauptchor war vieles anders als im Vorchor. Wir begannen die Probe nicht mit Echos, sondern mit Einsingen. Wir sangen nicht alle das Gleiche, sondern vier- und manchmal sogar achtstimmig. Wir lernten die Stücke nicht durch Nachsingen, sondern anhand von Noten. Vieles war anders. Am allermeisten unsere Chorleiterin.

Die Frau Siebenkittel, die ich im Vorchor kennengelernt hatte, war heiter und zu Scherzen aufgelegt gewesen wie eine Sonate von Haydn. Sie hatte ständig gelacht, bezaubernde Anekdoten erzählt und sich von uns allen am meisten gefreut, wenn es Gummi-Teddys gab. Die Frau Siebenkittel, die ich nun erlebte, war stürmisch und unberechenbar wie ein Madrigal von Monteverdi.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Madrigal: Kunstlied, in dem die ganze Palette menschlicher Gefühle musikalisch erlebbar gemacht wird. Charakteristisch sind Texte, die unerwiderte Liebe zum Thema haben, reich an Beschreibungen des Kummers und des Schmerzes sind und gerne mal zwischen zwei grundverschiedenen Gemütslagen hin und her springen.

Am Anfang einer Probe war meist alles noch wie im Vorchor.

«Ja, ich war ja am Wochenende auf so einer Feier», erzählte sie, «und da gab es solche total dollen großen Pflaumen. Wenn man sich die auf die Zunge gelegt hat, dann hat man ganz von selbst eine schöne Schnute gemacht. Und deswegen möchte ich jetzt, dass ihr euch beim Singen auch mal in Gedanken ein Pfläumchen auf die Zunge legt!»

Doch schon bei Salve Regina, dem ersten Stück des Tages, wurde ihre Laune schlagartig schlechter. Wir hatten noch keine drei Töne gesungen, da fuhr unsere Chorleiterin uns schon voll in die Parade.

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Und begann, auf uns einzuschimpfen: «Ich gebe hier permanent tausend Kilo und bekomme drei Gramm von euch zurück! Alt schleppt, Sopran ist sofort zu tief geworden. Leute, so geht das nicht. Gleich nochmal!» Keine fünf Takte vergingen und wir wurden abermals harsch unterbrochen.

«Mater mise-erico-ordiae», krächzte Frau Siebenkittel mit breitem Mund und machte dann richtig vor: «Mater mise-erico-ordiae»

Ich verstand überhaupt nicht, was sie hatte. Wir klangen doch ganz und gar wunderbar. Und so sehr ich mich auch mühte, einen Unterschied zu hören, während wir es – jetzt mit geweiteten Nasenflügeln – noch einmal sangen, ich bemerkte keinen. Unsere Chorleiterin aber war überzeugt: «Seht ihr, das war jetzt gleich viel besser!»

Wenn sie uns wenigstens mal aussingen lassen würde. Diese ständigen Unterbrechungen gingen mir auf die Nerven. Ein Lied war doch wohl so gedacht, dass man es vom Anfang bis zum Ende sang. Warum also ließ sie uns nicht? Sie konnte doch danach immer noch sagen, was beim nächsten Mal gerne anders hätte. Beim Vorchor hatte sie es doch auch immer so gemacht.

Aber nein, sie schlug doch glatt schon wieder ab. «Ich bin jetzt zufrieden, aber ich möchte begeistert sein!», rief sie.

Es würde wohl noch eine ganze Zeit dauern, bis endlich meine Lieblingsstelle drankäme. Ich summte sie leise vor mich hin: «Et je-esum benedi-ictum Fru-uctum ventris tui –». Dieser kurze Augenblick der Dramatik in diesem sonst so langatmigen Stück, einfach traumhaft.

Immerhin waren wir aus dem Gröbsten draußen. Frau Siebenkittel war auf einmal des Lächelns und des Lobes voll.

Ich atmete innerlich auf. Dabei wusste ich nur zu gut, dass es dafür keinen Anlass gab, dass dem Frieden nicht zu trauen war. Jederzeit konnte es passieren, dass sie alles stehen und liegen ließ und auf einen von uns zugestürmt kam und jeder betete, dass nicht er derjenige war, und war sie dann bei mir angekommen, machte sie kurzen Prozess: Riss mir die Mappe aus der Hand und schleuderte sie unter den Flügel. Eine Vorgehensweise, die ich ihr durchaus übel nahm.

Konnte ich denn etwas dafür, dass es solch einen Spaß bereitete, an der Zettelhalterung herumzufummeln?

Überhaupt schimpfte Frau Siebenkittel überdurchschnittlich häufig mit mir. So häufig, dass ich mich schon manchmal im Stillen gefragt hatte, ob sie vielleicht etwas gegen mich hatte. Heute war es mal wieder so weit.

Doch dann: «Lenni-Löwe, du weißt doch immer alles! Wie viele Gehirnzellen hat ein Mensch?»

«Öhm – Eine Million.»

«Ja, richtig! Und hundert davon habt ihr fürs Fußballspielen und hundert fürs U-Bahn-Fahren und hundert fürs Aufs-Klo-Gehen. Und zehntausend, die habt ihr jetzt bitte fürs Singen! Das, was ihr gerade macht, das ist keine Musik!»

Sie mochte mich also doch. Sie hatte sich nicht einmal etwas daraus gemacht, dass ich offensichtlich keine Ahnung hatte, wie viele Gehirnzellen ein Mensch hat. Wenn das kein Beweis für aufrichtige Wertschätzung war, was dann?

Es war eigentlich auch undenkbar, dass sie mich nicht mochte. Dann würde ich ja zu denjenigen zählen, die sie immer wieder mit einem ihrer seltsamen Schimpfnamen bedachte. Träne, meistens. Aber auch Tränentier und trübe Tasse. Schon lustig, dass all diese Wörter mit T begannen. Nur Drömel, das fing mit D an.

Nahm Frau Siebenkittel einen dieser Namen in den Mund, bekamen wir das zu hören, was mein Vater wohl meinte, wenn er von einer Mannheimer Rakete sprach.

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Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Als Mannheimer Rakete bezeichnet man eine rasche Aufwärtsbewegung, die meist mit einem kräftigen Crescendo garniert wird. Berühmte Beispiele für die Verwendung dieses Effekts sind der letzte Satz von Mozarts Vierzigste Sinfonie oder – mit der gleichen Intervallfolge – der erste von Beethovens Klaviersonate Nummer Eins.

Andererseits: Vieregge wurde auch nie mit einem dieser Schimpfnamen bedacht. Und den konnte sie tatsächlich nicht leiden. Auf den Tod nicht leiden. Ihre Art, seinen Namen zu brüllen war unmissverständlich und im Übrigen zum Schreien komisch.

«Vi-i-ieregge!»

Grund für ihre Abneigung war der lange, eng geflochtene Zopf, den der Junge trug. Mich erinnerte er damit immer an Martin Taschenbier, den Antihelden aus einem von Paul Maars Sams-Büchern. Eine literarische Figur, die mir nicht unsympathisch war. Frau Siebenkittel aber bestand darauf: Die Haartracht musste weg. Notfalls würde sie auch selbst zur Schere greifen.

Das hatte übrigens rein gar nichts zu damit zu tun, dass Vieregge ein Kerl war. Auch bei Frauen trieben Zöpfe unsere Chorleiterin zur Weißglut.

Wisst ihr», erzählte sie einmal, «neulich war ich im Konzert und dann saß vor mir eine Frau, die hatte auch so einen schrecklichen langen Zopf. Da wollte ich auch die ganze Zeit meine Schere aus der Handtasche nehmen und ihr den abschneiden und konnte mich überhaupt nicht auf die Musik konzentrieren. Das war echt doof!»

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Hätte sie es mal getan, dann wäre sie in die Fußstapfen Joseph Haydns getreten. Der hat in seinen Flegeljahren nämlich tatsächlich beim Konzert einem vor ihm stehenden Jungen den Zopf abgeschnitten. Sein Lohn war der Rauswurf aus dem Knabenchor des Wiener Stephansdoms. So zumindest will es die Legende.

Die Probe war inzwischen fast zu Ende. Eigentlich war sie ganz zu Ende, die Zeiger meiner Armbanduhr zeigten drei nach Sechs. Frau Siebenkittel ließ sich davon nicht stören. Seit einer geschlagenen Viertelstunde schon ritt sie auf der gleichen Stelle von Exsultate Deo herum. Immer wieder gab es etwas zu verbessern. Wie konnte das sein, bei einem Stück mit derart wenig Inhalt? Ich blickte mich um, musterte den Raum, den ich wohl nie wieder verlassen würde. Und ich hatte doch eine U-Bahn und eine Fähre zu kriegen. Wollte sie überhaupt zufrieden sein?

Da geschah plötzlich das ganz und gar Unerwartete: Unsere Chorleiterin fiel vor uns auf die Knie.

«Ich danke euch, Leute! Das war wirklich ganz, ganz wunderbar! Ich freue mich schon richtig doll aufs nächste Konzert mit euch!»

Sie warf einige Luftküsse, erhob sich und wünschte uns allen noch einen schönen Abend.