Durch den finstren, finstren Wald
Perlen von Holstein Folge 7
Ein Chor, der überall auf der Welt bekannt war, war logischerweise auch überall in der Welt zuhause. Ich wunderte mich deshalb gar nicht darüber, dass wir bereits auf Reisen fuhren, bevor ich überhaupt meinen ersten Auftritt gehabt hatte. Nach Maschen ging es, zum Chorwochenende.
Maschen war etwas, von dem ich noch nie in meinem Leben etwas gehört hatte. Das war aber vollkommen normal für einen Ort, in den man in den Urlaub fuhr. Zumindest für einen Ort, in den ich in den Urlaub fuhr. Während viele meiner Klassenkameraden ihre Ferien auf Mallorca verbrachten, reisten meine Familie und ich in entlegenste Winkel Deutschlands. Das Flugzeug kam dafür nicht in Frage, wir mussten mit der Bahn fahren. Das konnte dauern, sehr, sehr lange dauern.
Für unser Chorwochenende galt aber zumindest das schon einmal nicht: Maschen lag nicht weit von Hamburg. Eine Regionalbahn fuhr dorthin. Stündlich.
Zum endgültigen Ziel, dem Johann-Simonis-Haus, gelangte man dann mit einem Linienbus. Kein Linienbus, wie man ihn in der Stadt traf, freilich. Eher einer von jenen, wie ich sie noch aus Neuenfelde kannte. So einer, der nur alle sechzig bis neunzig Minuten fuhr, zwölf verschiedene Endstationen hatte und unterwegs schon einmal Liniennummer und Verkehrsverbund wechselte.
An der Bushaltestelle des Bahnhofs Maschen ging dann auch das große Rätselraten los.
«Hä? Die Buslinie, die hier im Chorplan steht, gibt es ja gar nicht», sagte meiner Mutter. Sie ging zum Fahrplanaushang. «Also wir sind hier auf jeden Fall richtig. Hier ist ein Bus, der nach Schöne Aussicht fährt. Der fährt aber erst in einer halben Stunde. Mein Gott!»
So standen wir nun also da. Sich umzusehen hatte keinen Zweck. Es gab hier keinen Ort, an dem man die Zeit totschlagen konnte. Keine Kneipe, keinen Imbiss, nicht einmal einen Kiosk. Oben auf dem Bahnsteig hatte ein Verkaufshäuschen gestanden, das war aber mit Brettern vernagelt gewesen. Wie es ausgesehen hatte, nicht erst seit gestern. Einziges Zeichen von Leben waren so die gelegentlich hinter unserem Rücken vorbeitrottenden Güterzüge.
Wir waren hier mutterseelenalleine.
Eine halbe Stunde harrten wir in der Kälte aus. Dann endlich kam unser Bus.
Der Fahrer wusste Bescheid: «Ja, das ist kein Wunder, dass sie die andere Linie nirgends finden konnten. Die fährt hier schon seit Jahren nicht mehr. Na egal, kommen Sie mit mir mit. Ich bringe Sie schon nach Schöne Aussicht.»
Wir stiegen ein und nahmen auf den warmen Stühlen der hinteren Reihe Platz. Der Schlingelbank, wie meine Klassenlehrerin sie nannte.
Während der Fahrt musterte meine Mutter den Chorplan.
«Hier steht tatsächlich eine völlig andere Linie drin –»
Unfug im Chorplan? Konnte es sein? Hatte Frau Siebenkittel denn nie jemand gesagt, dass sich Fahrpläne auch mal änderten? Sie wusste doch sonst alles. Naja, auch ein Genie macht mal Fehler.
Es war November und die Tage kurz. Als wir an der Haltestelle Schöne Aussicht ausstiegen, herrschte bereits dunkle Nacht. Doch sollte uns das nicht lange plagen. Laut Chorplan war der Weg zum Johann-Simonis-Haus ausgeschildert. Er konnte also nicht allzu lang sein.
Wir gingen den Bürgersteig entlang und hielten nach einem Schild oder Wegweiser Ausschau. Es war weit und breit keiner zu sehen. Auch war niemand da, den man hätte fragen können. An den Straßenrändern nichts als Büsche und Bäume. Meine Mutter und ich waren auf uns alleine gestellt.
Wir gingen weiter, bis wir an eine winzige Kreuzung gelangten. Sie führte in eine Straße, in der zumindest schon einmal Häuser standen. Sie erweckten jedoch nicht den Eindruck, als würde sich dort zur Zeit jemand drinnen aufhalten. Einzig in der Post brannte Licht.
Wir traten ein. Hinter der Theke stand eine ältlich wirkende Dame. Sonst war keiner da.
Meine Mutter zeigte ihr den Chorplan. Sie betrachtete ihn kurz.
«Was? Da wollen Sie zu Fuß hingehen?», schrie sie.
Nach kurzem Schweigen erklärte sie uns dann den Weg.
Wir traten hinaus ins Freie und suchten die Stelle, die die Frau uns auf ihrer Karte gezeigt hatte. Tatsächlich, nicht weit von der Bushaltestelle entfernt, versteckt hinter Bäumen, lag ein Weg. Er führte mitten in den Wald.
Nicht nur mir war das nicht ganz geheuer. Doch welche Wahl hatten wir?
Wir überquerten die Fahrbahn und traten ein ins Dunkel.
Was uns erwartete, war kein wirklicher Waldweg. Zumindest keiner wie bei Hänsel und Gretel oder Der kleine Däumling. Der Boden bestand aus Asphalt, es gab vereinzelt Straßenlaternen und sogar Häuser, in deren Fenstern Licht brannte.
Damit war es jedoch bald vorbei. Wir kamen auf einen Sandweg.
«Meine Güte, wie weit ist es denn noch?», stöhnte meine Mutter.
Eine Frage, die bei den Waldspaziergängen der Schlümpfe doch eigentlich immer die Kinder stellten.
Der Sandweg führte an einem Feld entlang. Ihm folgte ein weiteres Waldstück. Hier gab es keine Laternen und keine Häuser. Es war so finster, dass meine Augen sich erst einmal daran gewöhnen mussten.
Wie lange wir jetzt schon so unterwegs sein mochten? Eine halbe Stunde bestimmt, wenn nicht gar länger. Was, wenn wir uns verirrt hatten? Würden wir je wieder aus diesem verwunschenen Wald herausfinden?
Dann aber, völlig unerwartet, wurde der Boden unter unseren Füßen wieder fester. Asphalt. Ich blickte auf und bemerkte, dass überall um uns herum Autos standen. Tatsächlich, wir befanden uns auf einem Parkplatz. Mitten im Wald. Dann sahen wir es, das Johann-Simonis-Haus, wie es auf einer Anhöhe thronte, in verheißungsvoll glimmendes Licht gehüllt.
Wir hatten es geschafft. Zumindest ich, meine Mutter musste jetzt den ganzen Weg zurückgehen. Auf mich aber wartete jetzt erst mal das Abendbrot.
Mein erstes Chorwochenende hatte begonnen.