Besinnliche Tage

Perlen von Holstein Folge 12

Die folgenden drei Wochen waren wie eine große Reise. Überall in und um Hamburg traten wir auf. In prachtvollen Kirchen und festlich geschmückten Hallen. Vor vielen alten und manchen jungen Leuten. An Mittwochen, Freitagen, Sonnabenden und Sonntagen. Meine Mutter und ich fuhren mit fremden Buslinien, verließen die U-Bahn meist erst bei der Endstation und irrten durch verwaiste Gassen.

Die Konzerte entschädigten für alle Strapazen. Jedoch, auch sie waren nicht nur schön: Vom vielen Stehen taten mir die Füße weh und die Flamme der Kerze trocknete meine Augen aus.

«Du musst sie dir ja nun auch nicht immer direkt vors Gesicht halten, Lennart», sagte mein Vater.

Natürlich musste ich das. Sie sollte doch auf gleicher Höhe sein wie bei meinem zwei Köpfe größeren Nachbarn Andrej. Wie sah das denn sonst aus?

Traten meine Mutter und ich dann schließlich den langen Heimweg an, war ich müde und ausgelaugt. Stärker jedoch war der Stolz. Der Stolz, bei einer Konzertsaison des besten Knabenchors der Welt dabei sein zu dürfen.

Ich hatte meine Mutter angewiesen, sämtliche Werbezettel, Eintrittskarten und Programmhefte aufzuheben. Sie füllten bereits jetzt einen stattlichen Ordner. Er machte es sichtbar: Ich hatte größeres vollbracht als alle meine Klassenkameraden zusammen. Die nämlich erzählten jeden Montag das Gleiche: Wieder einmal war ihr Provinz-Handballverein von irgendwem zwanzig zu null abgefertigt worden.

Schon sonderbar, mit was manche Menschen ihre Freizeit zubrachten.

An meinem Status als vollwertiges Mitglied bestand indes kein Zweifel mehr. Jedes Konzert durfte ich genüsslich mit ansehen, wie sich die Neuen nach dem Adventsintro hinsetzen mussten. Ich hingegen war überall dabei.

Fast.

Nach einem Auftritt im Altersheim Albertinen wollte meine Mutter etwas mit unserer Chorleiterin besprechen. Jene befand sich gerade auf dem Weg zum Parkplatz.

Ich lief ihr nach. «Frau Siebenkittel!», rief ich. Sie aber ging einfach weiter. Ich schrie lauter, doch sie drehte sich noch immer nicht zu mir um.

Den Tränen nahe ging ich zurück zu meiner Mutter.

«Sie ignoriert mich!», sagte ich.

Das fand sie urkomisch.

«Ach, Lennart, sie ignoriert dich doch nicht! Und wo hast du dir nur dieses Wort schon wieder aufgeschnappt?»

Na, von einer Fehlermeldung in Windows 95. Und was war daran so witzig? Mein Vater hatte gesagt, dass ignorieren genau das bedeutete: So tun, als würde man jemanden oder etwas nicht bemerken.

Meine Mutter lief nun mit mir zusammen Frau Siebenkittel hinterher. An ihrem Auto hatten wir sie endlich eingeholt.

«Ja, ich wollte auch noch mal mit Ihnen sprechen, Frau Schuett», sagte sie, «Also nach München, da kann Lenni-Löwe dieses Jahr noch nicht mit uns hinfahren. Da muss ich mir nur Sorgen machen, dass er uns irgendwo verloren geht. Sie sehen ja, er kann einfach nicht mal fünf Minuten warten! Und auf so einer Reise, da muss man oft noch viel länger warten, Lenni-Löwe, das ist noch nichts für dich.»

Mit diesen Worten hievte sie eine Kiste voll Noten in den Kofferraum und schlug die Klappe zu.

Meine Enttäuschung hätte kaum größer sein können. Die Reise nach München wäre meine erste mit dem Flugzeug gewesen. Ich wäre damit meinem großen Bruder zuvorgekommen, der im Sommer nach England fliegen sollte. Doch nun: Aus der Traum. Ein weiteres Jahr würde ich der einzige in der Klasse sein, der immer nur mit dem Zug verreiste.

Ich ließ jedoch den Kopf nicht hängen. Immerhin: Das Konzert in der Hauptkirche St. Jacobi durfte ich mitsingen. Es war wirklich ein ganz Besonderes. In allen S- und U-Bahnstationen hingen die Plakate. Sie waren wunderschön: weiß mit rotem Rand, dem Rot unserer Chorkleidung. Jedoch mit vielen kleinen handgeschriebenen Noten darauf.

Kunstkenner aus aller Welt waren dem Ruf gefolgt. Die Kirchenbänke waren bis auf den letzten Platz gefüllt. Man hatte sogar zusätzliche Stühle herbeischaffen müssen, um dem Andrang gerecht werden zu können.

Dabei machte die Hauptkirche St. Jacobi ihrem Namen alle Ehre. Sie war gigantisch groß. Nicht so groß wie der Kölner Dom, aber groß genug. Während der Generalprobe ging Frau Siebenkittel einmal nach ganz hinten. Sie war kaum noch zu verstehen.

Der Raum, in dem unsere Sachen lagerten, war hingegen recht beengt. Er lag hinter der Orgel versteckt. Sein Eingang war mit einer Gittertür versehen. Ich fragte mich, wer hier früher geschmachtet haben mochte. Bestimmt welche, die gesagt hatten, dass die Erde keine Scheibe ist. Ich hatte neulich irgendwo gelesen, dass die Kirche solche Menschen früher eingesperrt und gefoltert hatte. Wo jetzt unsere Rucksäcke lagen, hatten also früher vielleicht einmal Eiserne Jungfrauen gestanden.

Wie gut, dass die Gittertür immer sperrangelweit offen stand und niemand den Schlüssel für sie zu haben schien. Ich würde mich dennoch nicht alleine in dem Raum aufhalten wollen. Schon gar nicht nachts.

Unser bedeutendster Auftritt war zugleich der am wenigsten anstrengende. Nach jedem dritten Lied durften wir uns hinsetzen. Witta Pohl las Weihnachtsgedichte und -geschichten vor. Witta Pohl, das war laut meiner Mutter eine berühmte Schauspielerin. Sie war außerdem Schirmherrin des Knabenchors. Was immer das sein mochte.

Was sie hier heute tat, war offenbar mehr wert als das, was wir hier heute taten. Jedenfalls stand es auf den Plakaten in der Reihenfolge: «Witta Pohl liest, Knaben singen».

Ein Grund, auf das, was einen erwartete, gespannt zu sein.

Ihre Gedichte waren größtenteils unspektakulär, teilweise sogar befremdlich. In Die alte Kirche etwa wünschte sich jemand, eine alte Kirche zu sein. Was auch immer er daran so erstrebenswert fand.

Worauf das Gedicht hinauslief, war abzusehen: Auf dieser Welt gab es Wichtigeres, als Fernseher und Computer zu haben. Bemerkenswerterweise waren damit aber nicht Freunde oder Familie gemeint.

«Du bist geborgen hier, was willst du mehr?», las Witta Pohl.

‹Also ich wüsste da schon was –›, dachte ich im Stillen.

Zuletzt behauptete wurde dann auch noch behauptet, Glück würde sich genauso schwer wie Unglück tragen. Was bitte trug sich an Glück schwer? Glück war doch etwas ausgesprochen Tolles!

Richtig schlimm, geradezu unerträglich war das Kaschubische Weihnachtslied. Alleine schon weil es Lied hieß, aber ein Gedicht war.

«Wärst du, Kindchen, im Kaschubenlande, wärst du, Kindchen, doch bei uns geboren», begann es.

Ich hatte die Weihnachtsgeschichte jetzt schon häufiger gehört. Nie war es mir in den Sinn gekommen, Bethlehem als Geburtsort für das Jesuskind zu hinterfragen. Warum also machten diese Kaschuben das? Und womit glaubten sie, es verdient zu haben, dass Gott den gerade zu ihnen verlegt?

Wo lag dieses Kaschubenland denn überhaupt? Gehört hatte ich davon jedenfalls noch nie. Bestimmt war das so etwas wie Pilsen, Pommern oder Preußen. Etwas, das irgendwann vor hundert Jahren, als es noch Komponisten gegeben hatte, mal zu Deutschland gehört hatte. Das Kaschubische Weihnachtslied glich damit einer Bier- oder Wurstwerbung. In denen wurde ja auch häufig so getan, als ob es Pilsen, Pommern oder Preußen noch gäbe.

Die Versprechungen, die man dem Jesuskind machte, waren so gesehen bezeichnend: «Gänsefleisch und Kuttelfleck mit Ingwer, fette Wurst und gold’nen Eierkuchen, Krug um Krug das starke Bier aus Putzig!»

Also bitte, Alkohol trinken, das taten nun wirklich nur Erwachsene. Mit so etwas lockte man doch kein Kind an. Kein Wunder, dass unser Heiland sich gegen das Kaschubenland entschieden hatte.

Ein Lichtblick war dagegen die Geschichte Glauben Sie an Engel? Sie handelte von einem Mann, der versehentlich auf offener Strecke aus Zug stieg.

Witta Pohl lief zur Höchstform auf: «Na, zuerst einmal habe ich natürlich geschimpft: ‹So ein Blödsinn, hier in der Nacht auszusteigen!›»

Das war spannend. Und beinahe lebensnah.

Dennoch: Als das Publikum zum Schluss frenetischen Beifall klatschte, war ich sicher, dass er uns und nur uns galt.