In südlichen Gefilden
Perlen von Holstein Folge 20
Zwei Tage nach unserer Rückkehr aus Stelle stiegen wir in einen Bus nach Regensburg. Marc hatte unsere Eltern gebeten, uns zum Frühstück keine Milch zu trinken zu geben. Er meinte, sonst würden wir am Ende noch auf die teuren Sitzbezüge erbrechen.
Marc übrigens war nicht einfach nur Marc, sondern ein ziemlich hohes Tier. Ihm hatten wir all die Reisen und Konzerte zu verdanken, denn er war derjenige, der sie organisierte. Ob es nun sein Verdienst war, dass auf der Fahrt tatsächlich niemandem schlecht wurde, ließ sich natürlich nicht so leicht sagen. Jedenfalls hatten wir nach zehn Stunden alles unbeschadet überstanden. Der Bus rollte auf das Regensburger Ortsschild zu. Die Knaben hinter mir zählten die Sekunden herunter.
«Drei – zwei – eins –»
Willkommen in Regensburg.
Wir wohnten in einem Drei-Sterne-Hotel, für mich eine völlig fremde Welt. Einer von den Männern führte mich und meine Zimmergenossen zu unserem Raum. Er war unverhofft spartanisch eingerichtet. Es gab ein Ehebett, ein normales Bett, eine Schrankwand, Nachtschränke, einen Radiowecker und mehrere Tischlampen. Eine entscheidende Sache fehlte.
«Hä? Wieso ist hier denn gar keine Deckenlampe?», sagte ich.
«Tja, Lenni-Löwe, das ist vornehm!», erwiderte der Mann, «Vornehm ist auch, einen riesengroßen Teller zu nehmen und nur ganz wenig Essen draufzupacken.»
Ich musste lachen. Was bitte war der Sinn eines großen Tellers, wenn nicht der, ihn tüchtig vollzupacken? Man musste wohl vornehm sein, um das zu verstehen.
Da ich der Kleinste war, musste ich natürlich in dem Ehebett schlafen. Der Knabe, mit dem ich es mir teilte, war zwei Köpfe größer als ich und schien recht stark zu sein. Das war zunächst einmal schön: In seiner Gegenwart brauchte ich irgendein herabsinkendes Holzbrett wohl nicht zu fürchten. Welchen entscheidenden Nachteil es hatte, bemerkte ich erst um drei Uhr Nachts. Ich erwachte davon, dass er mir direkt ins Ohr röchelte. Er war doch tatsächlich vom äußersten Rand seines Bereichs der Matratze in meinen hineingerollt. Dabei war das Bett alles andere als klein. Offenbar träumte der Junge ausgesprochen intensiv. Eine ganze Zeit lang war ich damit beschäftigt, ihn gut im Auge zu behalten, um nicht plattgewalzt zu werden. Irgendwann aber bewegte er sich wieder von mir weg.
Beim Frühstückbuffet ging es zu wie im Kaschubischen Weihnachtslied. Es gab Kakao, Eier, Marmelade, Nutella und eine schier unendliche Vielfalt an Wurst- und Käsesorten. Schon beim Anblick beschloss ich, nicht vornehm zu sein, und schaufelte mir den Teller voll. Als ich mich hinsetzte, hörte ich in meinem Kopf die Stimme meiner ersten Kindergärtnerin reden. Sie sagte: «Nimm die Ellenbogen vom Tisch!» Ich überlegte, ob ich diesen Ratschlag vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben befolgen sollte, verwarf den Gedanken aber, nachdem ich das Messer in Hand genommen hatte. Niemand schien an meiner Art, es zu halten, Anstoß zu nehmen. Folglich war man hier nicht so etepetete wie in der Kita Emilienstraße oder auch bei uns zuhause.
In meinen Vorstellungen war so eine Chorreise etwa so abgelaufen: Wir aßen zusammen, wir schliefen zusammen, den Rest der Zeit verbrachten wir singend im Probenraum. Natürlich machten wir auch mal eine Pause, doch, abgesehen von der Mittagsruhe, nie mehr als fünf bis zehn Minuten. Wie auf einem Chorwochende, nur eben mit Konzerten.
Die Wirklichkeit sah so aus: Wir aßen zusammen, wir schliefen zusammen, den Rest der Zeit verbrachten wir mit Ausflügen. Natürlich probten wir zwischendurch auch mal, aber nie mehr als eineinhalb bis zwei Stunden. Wie auf einer Klassenreise, nur eben mit Konzerten.
Vormittags machten wir einen Stadtrundgang. Ein Unternehmen, dem ich nur wenig abgewinnen konnte. Ich wusste, dass es oft das erklärte Ziel von Reisen war, sich Landschaften und alte Häuser anzusehen. Alleine, der Sinn erschloss sich mir nicht. Zu was machte es einen denn, eine große Kirche, eine mächtige Statue oder irgendeinen hohen Berg gesehen zu haben? Was war daran so toll, dass alle, die es getan hatten, davon erzählten? Ich jedenfalls hatte mich an derlei Sehenswürdigkeiten oft nach wenigen Sekunden sattgesehen und langweilte dann schnell unheimlich. Und überhaupt: Wälder, Wiesen, Felder. Was faszinierte andere Menschen, insbesondere Erwachsene, so sehr daran, dass sie einen zu stundenlangem Verweilen nötigten? Ich würde es wohl nie verstehen.
Während wir auf einer Brücke standen, wurde ich hellhörig: Der Fremdenführer sprach von Strudeln. Strudel, ja, so etwas kannte ich aus Zeichentrickfilmen. Wenn da unsere Helden auf einem Floß einen Strom entlang trieben, kam immer irgendwann entweder ein Wasserfall oder ein Strudel. Er riss sie stets um ein Haar ins Verderben und war vor allem: riesengroß. Die Strudel von Regensburg hingegen waren winzig klein, mit bloßem Auge kaum zu erkennen. Laut dem Fremdenführer war aber gerade das so gefährlich an ihnen. Ihm war nur ein Mensch bekannt, dem es gelungen war, ihrem Sog zu entkommen und der soll ein verdammt guter Schwimmer gewesen sein.
Unser Mittagessen nahmen wir auf dem Oberdeck eines Schiffes an. Ich fand das sonderbar. Eigentlich aß man doch alle Mahlzeiten in dem Heim oder der Jugendherberge, in der man untergebracht war. Und wenn sich das einmal nicht ermöglichen ließ, bekam man ein Lunchpaket mit. Marc erklärte mir den Grund: Das reichhaltige Buffet im Hotel gab es nicht umsonst, wir waren hier ja nicht im Kaschubenlande, es kostete stattliche siebzig Mark pro Person. Ich staunte nicht schlecht. Das war ja der Preis eines Computerprogramms oder Modelleisenbahn-Waggons.
Die Mittagssonne blendete fürchterlich. Ich war gezwungen, den Kopf so weit herunterzubeugen, dass an Essen nicht zu denken war. Nun musste ich allen anderen dabei zusehen, genauer: zuhören. Das gefiel mir ganz und gar nicht. Tränen liefen mir die Wangen herunter. Einer von den Männern gesellte sich zu mir.
«Was ist denn los, Lenni-Löwe?»
«Die Sonne blendet mich so, dass ich nicht essen kann.»
«Ach, das ist doch alles halb so wild, Lenni-Löwe. Wenn ich dir meine Sonnenbrille gebe, hörst du dann auf zu weinen?»
Ich nickte und wischte mir die Tränen aus den Augen.
Nachdem ich fertiggegessen hatte, stand ich auf und schlenderte mit der Sonnenbrille übers Deck. Die Männer am Nachbartisch johlten.
«Wow, coole Sonnenbrille, Lenni-Löwe! Nimm uns aber nicht die ganze Weiber weg, ja?»
Sie wussten wirklich, wie man jemanden zum Lachen bringt, unsere Männer.
Wir stiegen in unseren Reisebus und fuhren aus Regensburg heraus zu einem Gebäude, das mitten auf einem Hügel stand. Es war über eine Reihe breiter Treppen zugänglich und schien komplett aus Stein zu bestehen. Sein Dach wurde von Säulen getragen. Im Inneren erwarteten einen dann lauter steinerne Nachbildungen der Köpfe irgendwelcher Könige, Kaiser und Komponisten. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Art Museum. Ein atemberaubend langweiliges Museum.
Ich ging hinaus und setzte mich auf die oberste Treppe.
Draußen zu sein war etwas, das ich eigentlich gar nicht leiden konnte. Der Satz «Jetzt geh doch mal draußen spielen!» stand in meiner Beliebtheitsskala auf einer Stufe mit «Zeit, ins Bett zu gehen, Lennart!» und «Kannst du die Musik mal bitte eine kleine Idee leiser machen?». Hätte ich jetzt auf einer Wiese gesessen, hätte ich wohl aus Langeweile Grashalme herausgerissen. Hier, auf dieser Treppe konnte ich nicht einmal das. Missmutig beobachtete ich den Fluss, der nicht weit von mir das Tal durchströmte.
Am Fuße der Treppe versammelte sich eine Schar weiblicher Jugendlicher
«Ey, lasst uns dem doch mal was vorsingen!», sagte eine. Sie deutete mit dem Finger auf mich.
Und schon ging es los: «Zum Tanze, da ging ein Mädel mit güldenem Band! Zum Tanze, da ging ein Mädel mit güldenem Band –»
Na, das hatte mir ja gerade noch gefehlt. Was fiel denen ein, unser Lied zu singen? Zum Tanze, da ging ein Mädel einzustudieren, das war Frau Siebenkittel ja wohl zuerst eingefallen. Von ihr stammte auch die Idee, es auf Deutsch zu singen, obwohl der Text in den Noten Schwedisch war. Elende Nachmacherinnen.
Ich stand auf und ging.
«Ach, komm, so schlecht waren wir doch nun auch wieder nicht!»
«Genau, du hättest uns wenigstens zu Ende zuhören können!»
«Jetzt lasst ihn! Ich glaub’, der will einfach in Ruhe gelassen werden.»
Neben dem Eingang zu dem Museum standen einige von den Männern. Auch sie sangen.
Das gefiel mir doch schon wesentlich besser.
«Haha, was ist das denn?», sagte ich.
«Naja», erwiderte einer, «das muss natürlich eigentlich heißen: Es tönen die Lieder, der Frühling kehrt wieder, aber wir singen immer: Es tönen die Lieder, der Totto kehrt wieder, weil man Totto so schön damit ärgern kann!»
Sie wussten wirklich, wie man jemanden zum Lachen bringt, unsere Männer.