Bäche von gesalznen Zähren
Perlen von Holstein Folge 22
Der Marktplatz, auf dem wir uns zu dieser feierlichen Stunde eingefunden hatten, war brechend voll. Wir mussten etwas länger suchen, bis wir eine Stelle fanden, an der wir zumindest halbwegs beieinander stehen konnten.
Es war schwer zu sagen, ob die Menschen um uns herum alle aus dem gleichen Grund hergekommen waren wie wir. Die Sonne schien, es war warm. Einer jener Tage, an denen unsere Klassenlehrerin uns mit den Worten «Nutzt das Wetter aus!» verabschieden würde. Worte, die bei mir bisher noch immer ungehört verhallt waren.
Vorne stand eine provisorische Bühne. Darüber hing ein Banner. «5. Deutscher Chorwettbewerb», stand dort, «Bekanntgabe der Ergebnisse». Ich fand ja, dass das ziemlich überflüssig war. Es wusste doch ohnehin jeder, wer gewonnen hatte: Wir, der Neue Knabenchor Hamburg. Konnten wir uns diesen ganzen Zirkus also nicht einfach sparen und stattdessen gleich mit der Siegerehrung beginnen?
Tatsächlich hatte der Sprecher nichts zu verkünden, was mir nicht auch eingefallen wäre: Die Schwulen vom Knabenchor Unser Lieben Frauen und die Transen vom Knabenchor der Singakademie Frankfurt Oder teilten sich den dritten Platz. Achtzehn Punkte bekamen sie. Achtzehn Punkte, das musste man sich mal vorstellen. Einige von den Erwachsenenchören hatten vorhin weit mehr als zwanzig gekriegt.
Doch was interessierte mich das? Sie waren nun einmal Verlierer. Jetzt mussten sie nur noch der Schrubbertaler Schwulende ihre erbärmliche Silbermedaille verleihen, schon könnten wir zum angenehmen Teil übergehen.
Na los, du da vorne. Jetzt sag endlich, was schon alle wissen.
«Zweiter Platz, dritter Preis mit 19,2 Punkten: Der Neue Knabenchor Hamburg!»
Was? Nein! Nein, das konnte nicht sein! Hier musste ein Irrtum vorliegen! Die Damen und Herren hatten ja wohl ihre Zettel durcheinandergebracht! Dritter Preis mit mickrigen 19,2 Punkten, das war ja wohl ein Witz! Natürlich war es das, gleich schon würde sich alles aufklären, gleich würden sie ihren Fehler bemerken. Wir, besiegt von der Schrubbertaler Schwulende, das glaubten die doch selbst nicht.
Sie glaubten es: «Erster Platz, zweiter Preis mit 21 Punkten: Die Wuppertaler Kurrende!»
Da wurden mir die Mundwinkel schwer. Ich begann, bitterlich zu weinen. Die Knaben um mich herum hingegen stimmten Jubelchöre an.
«Gib mir ein N!»
«N!»
«Gib mir ein E!»
«E!»
«Gib mir ein U!»
«U!»
Ja, waren die denn verrückt geworden? Wie konnten die so feiern, wo wir doch verloren hatten?
Türschubser-Moritz wandte sich zu mir um.
«Oh, was ist denn los, Mann?»
Ja, was war ich eigentlich los? Ich war der einzige, der heulte. Und ich hatte damit wohl allen Grund, mir albern vorzukommen.
«Wir sind nur Dritter geworden!», sagte ich.
«Oh, zweiter Platz, dritter Preis, Mann!»
Als hätte ich das nicht genau verstanden. Sofern es daran überhaupt etwas zu verstehen gab. Was sollte das eigentlich, dass jemand, der Zweiter wurde, nur den dritten Preis bekam? Was war denn das bitte für ein gequirlter Schwachsinn?
Ich heulte noch, als wir im Triumphmarsch durch Regenburg zogen, und ich heulte noch, als wir beim Hotel ankamen.
Am Abend besuchten wir ein Bierzelt.
Als wir hereinkamen, waren die Tische bereits allesamt zur Hälfte belegt. Wir würden also tun müssen, was in der U-Bahn immer keiner tun wollte: Uns dort hinbegeben, wo schon jemand anders saß. Ich ging sogar so weit, mich alleine zu lauter Fremden zu gesellen.
Ich konnte ja nicht ahnen, dass es sich bei ihnen nicht um irgendwelche Fremden handelte.
«Da haben wir euch wohl geschlagen», sagte ein Mann, der mir schräg gegenübersaß.
Na, klasse. Da hatte man einmal nicht aufgepasst, schon saß man Fuß an Fuß mit dem Feind.
«Hm –», antwortete ich.
«Weißt du, ich fand das ja echt doof, dass wir euch nicht mehr hören konnten. Das ist irgendwie alles ein bisschen blöd organisiert gewesen. Die Eltern von uns, die im Publikum gesessen haben, meinten aber alle, dass ihr genauso gut gewesen seid wie wir. Wir können auch nicht verstehen, dass ihr so viel weniger Punkte bekommen habt!»
Ich blickte den Mann eine Weile an und kam zu dem Schluss, dass er absolut recht hatte.
Später wurden die Biertische zu einem großen Karree zusammengeschoben. Wir kletterten darauf und tanzten Polonaise. Vor und hinter mir hüpften Knaben, die eindeutig nicht zu unserem Chor gehörten.
Es war mir sowas von egal.
Am nächsten Morgen fuhren wir zurück nach Hause. Frau Siebenkittel erklärte noch einmal, wie unendlich stolz sie war, dass wir es soweit gebracht hatten, wie unglaublich es sie begeisterte, was wir zu leisten imstande waren, und als welch unbeschreibliche Ehre sie es empfand, unsere Chorleiterin sein zu dürfen. Sie preiste uns mehr als üblich und doch kam ihr Lobgesang nicht ohne einen kleinen Missklang aus.
«Ja, also, ich habe es jetzt leider nicht mehr geschafft, noch einmal mit der Jury zu sprechen. Ich hätt’ schon ganz gerne noch gewusst, warum das mit den Punkten so mickrig gewesen ist.»
Das hätte mich allerdings auch mal interessiert. In der Jury hatte nämlich eine Frau gesessen, die Frau Siebenkittel zur Begrüßung geherzt hatte. Die Frage, warum sie dann so gemein zu ihr war, war mehr als berechtigt.
Zuletzt wollte unsere Chorleiterin noch eines wissen: «Gibt es jetzt noch jemanden unter euch, der das Hugo-Rätsel noch nicht gelöst hat?»
Beschämt hob ich als einziger die Hand.
«Ach, das macht doch nichts, Lenni-Löwe. Möchtest du, dass es dir jemand verrät?»
Ich nickte.
«Okay! Wer möchte Lenni-Löwe sagen, was das für Sachen sind, die der Hugo mag?»
Einige Knaben rissen sich geradezu darum, am allermeisten Ott-Thaddäus. Meine Wahl fiel somit auf ihn.
«Also, Lenni-Löwe, das ist eigentlich ganz einfach: Hugo mag alle Sachen, bei denen im Namen zwei Mal hintereinander der gleiche Konsonant kommt.»
«Was ist ein Konsonant?»
«Na, so ein Buchstabe, bei dem noch ein anderer Buchstabe stehen muss, damit man ihn aussprechen kann. Also so P, K oder T.»
«Ach, du meinst Mitlaute.»
«Genau! Und Hugo mag halt Sachen, bei denen immer zwei Mal hintereinander der gleiche Mitlaut kommt. Also zum Beispiel: Sonne, Wanne, Tonne; solche Sachen.»
Ach so.