In der Büchse
Perlen von Holstein Folge 24
Ich war außer mir. Endlich würde ich einmal ins Fernsehen kommen. Das ZDF hatte uns eingeladen, beim Chorwettbewerb seiner Sendung drehscheibe Deutschland teilzunehmen. Da hatten wir natürlich nicht nein gesagt. Ins Fernsehen, dahin wollte doch jeder. Außer Karlsson vom Dach. Haushälterin Fräulein Bock – genannt: der Hausbock – hatte ihn für ein Gespenst gehalten und der Weltöffentlichkeit präsentieren wollen. Dafür hatte der gute Karlsson nur Spott übrig gehabt: «Nicht, solange ich bei Kräften bin und imstande, mich zur Wehr zu setzen!» Karlsson vom Dach war aber auch der Meinung, dass man die Büchse – so nannte er den Fernseher – gegen eine mit Brötchen eintauschen sollte. Ich musste in diesem einen Falle also wohl mal nicht so viel auf seine Worte geben.
Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: In Zeiten, in denen alle Welt irgendwas mit Medien oder Theaterwissenschaften studieren möchte, mag es erstaunen, aber: Heinrich Schütz musste man zu seinem Glück zwingen. Sein musikalisches Talent war früh erkannt worden, doch der Mann wollte lieber etwas Anständiges lernen. Die Juristenlaufbahn war deshalb beschlossene Sache. Selbst ein zweijähriger Venedigaufenthalt auf Staatskosten hat ihn nicht endgültig davon abbringen können. Erst, als man ihn dann auch noch zwang, Dresdner Hofkapellmeister zu werden, fügte er sich in sein Schicksal. Eine weise Entscheidung.
Salve Regina oder gar den Domhardt konnten wir dem geneigten Publikum natürlich nicht zumuten – laut meiner Mutter war drehscheibe Deutschland eine absolute Oma-Sendung. Wir sangen Geh aus, mein Herz, und suche Freud. Die Aufnahmen sollten in der Schwedischen Seemannskirche stattfinden. Ich fand das bemerkenswert. Meine Musiklehrerin hatte erzählt, Geh aus, mein Herz war kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg komponiert worden. In diesem hatten Frankreich und eben auch Schweden weite Teile Deutschlands verwüstet. Ganze Landstriche hätte es gegeben, in denen keiner mehr gewohnt hat. Alle waren verzweifelt gewesen, bis Paul Gerhardt kam. Er war der Ansicht gewesen, dass die Menschen nicht für immer traurig sein, sondern lieber mal sehen sollten, wie schön die Natur doch war. Deswegen hatte er dieses Lied geschrieben.
Die Schwedische Seemannskirche war für mich so bequem zu erreichen wie kaum je ein anderer Auftrittsort. Von der Fähre konnte man direkt zu Fuß dort hinlaufen, sie lag nur wenige Meter hinter dem U-Bahnhof Landungsbrücken. Erstaunlich, dass ich von ihr noch nie Notiz genommen hatte. Doch war es wohl so: Auch wenn ihr winziger Turm vom Anleger aus gesehen direkt vor dem des Michels stand, wurde eher er von jenem überdeckt als umgekehrt.
Der Kirchenraum befand sich im ersten Stockwerk. Als ich dort ankam, lungerten zwischen Knaben und Männern unseres Chores zwei Herren auf den Bänken herum. Ihr jugendliches Alter konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie hier heute das Sagen hatten. Die zwischen ihnen aufgebockte Kamera flößte einem Respekt ein. Sie war kastenförmig und länger als unser Fernseher breit war. Bestimmt war sie verdammt schwer. Ich fragte mich, wie jemand so einen dicken Klotz den ganzen Tag auf seiner Schulter herumtragen konnte. Ich jedenfalls würde ihn nicht einmal hochbekommen. Fürs Fernsehen war eben nicht jeder gemacht. Das galt, wie ich heute merken sollte, nicht nur hinter oder unter der Kamera, sondern auch davor.
Wenn in der Probe ein Stück wie Geh aus mein Herz hervorgeholt wurde, übten wir daran eine Viertel-, wenn es hochkam eine halbe Stunde. Die heutige Aufzeichnung zog sich mehr als zwei Stunden hin. Ich hatte irgendwann einmal gelesen, dass bei Filmaufnahmen eine Szene nicht nur einmal, sondern immer mehrere, in manchen Fällen über hundert Male gedreht werden musste. Nie hätte ich mir aber träumen lassen, dass das so anstrengend ist.
Immer und immer wieder ließen die zwei Herren uns das Lied singen. Oft sagten sie gar nicht, was sie anders haben wollten. Sie fummelten lediglich an ihrer Kamera herum oder schleppten sie in einen anderen Teil des Raumes. Ein einziges Mal durften wir uns für ein paar Minuten hinsetzen und auch das nur, weil Frau Siebenkittel gegenüber den Herren darauf bestand. Ich fühlte mich bald so elend wie einer, der drei Tage durch die Sahara geirrt war. Mein Mund war völlig ausgetrocknet und die Haut an meinen Fersen begann sich allmählich aufzulösen.
Hasserfüllt starrte ich die beiden Herren an. Sie schenkten dem keinerlei Beachtung. Stattdessen verkündeten sie, was sie sich nun für uns ausgedacht hatten.
«So, jetzt möchten wir bitte, dass ihr alle ab jetzt nur noch so tut, als würdet ihr singen!»
Bitte, was? Waren wir hier denn bei der Mini Playback Show?
Um mich herum bissige Kommentare. Nicht nur von den Knaben, auch von den Männern, besonders den älteren.
Dann, als es endlich durchgestanden war, herrschte große Erleichterung. So schön es war, im Chor zu singen: Was zu viel war, war zu viel.
Und dann sollte sich der Aufwand nicht einmal gelohnt haben. Erst wurden wir von der Moderatorin als die Sängerakademie mit der Jagdpolka angekündigt, dann konnte wirklich jeder Hinnerk sehen, dass wir nur so taten, als würden wir singen. Wie früher in der Mini Playback Show, nur ohne Zauberkugel.
Es verstand sich von selbst, dass wir auch bei diesem Chorwettbewerb nicht gewannen. Ein Rentnerchor mit Ziehharmonikabegleitung konnte sich bei der Telefonabstimmung mit großem Vorsprung gegen uns durchsetzen. Anders als bei unserer letzten Niederlage heulte ich nicht. Wenn ich es so recht bedachte, fand ich es eher zum Lachen. Beim Fernsehen galten wohl wirklich andere Regeln. Und auch Fräulein Bock hatte, so gerne sie dort aufgetreten wäre, eigentlich nur Verachtung für es übrig. Karlsson vom Dach nämlich war mitnichten ein Gespenst, sondern nach eigenem Empfinden ein schöner und grundgescheiter und ziemlich dicker Mann. Als Fräulein Bock das erkannt hatte, hatte sie geschluchzt: «Ein schöner und grundgescheiter und ziemlich dicker Mann, das ist schon was Rechtes, dem Fernsehen das anbieten zu wollen, davon haben sie selber haufenweise.»