In den Vorhöfen des Herren

Perlen von Holstein Folge 25

Die Kamera des ZDFs war nicht nur groß gewesen. Sie hatte auch eine gewaltige Menge Strom verbraucht. Strom, den nun irgendwer bezahlen musste. Die beiden Herren hatten abgewinkt, sodass unser Chor in der Pflicht war. Wir konnten das aber nicht bezahlen. Die Kirchengemeinde hatte sich nun bereit erklärt, die Kosten zu übernehmen. Dafür verlangte sie allerdings eine kleine Gegenleistung.

So jedenfalls hatte meine Mutter es mir erklärt, als sie mir vor einigen Tagen eröffnet hatte, dass wir erneut in der Schwedischen Seemannskirche singen würden. Dieses Mal als Stargäste des sonntäglichen Gottesdienstes.

Ein Stöhnen war mir entglitten.

Gottesdienste hatten gegenüber Konzerten einen Vorteil: Man musste nicht die ganze Zeit stehen, sodass einem zum Schluss nicht die Füße schmerzten. Sie hatten aber auch einen entscheidenden Nachteil: Es wurde lange und ausschweifend geredet. Meist über Geschichten, die in der Bibel standen.

Das zunächst einmal nichts Verwerfliches. Im Religionsunterricht redeten wir andauernd über Geschichten, die in der Bibel standen. Gegenwärtig über Jona und der Wal. Eine Erzählung spannend wie ein Abenteuerfilm. Jona hatte mit einem Schiff vor Gott fliehen wollen, doch der hatte das nicht mit sich machen lassen. Er hatte einen gewaltigen Seesturm entfacht. Den Seemännern war bald nichts anderes mehr übrig geblieben, als Jona ins Meer zu werfen. Dort war er von einem großen Walfisch verschluckt worden, in dessen Bauch er wochenlang überlebt hatte.

So spannend und fantastisch zugleich war bisher nur der Roman gewesen, in dem sie durch das Magma-Labyrinth eines Unterwasservulkans gefahren waren. Ständig hatten sie befürchten müssen, dass der Hitzeschild ihres U-Boots, der Nautilus, versagt.

Von Arche Noah besaß ich sogar eine Hörspiel-CD. Sie war zum Schreien komisch. Noah hatte auf ihr seine liebe Not mit so manchen Tieren. Die Esel etwa weigerten sich beharrlich, sein Schiff zu besteigen. So sehr Noah auch flehte und bettelte, sie bewegten sich kein Stück. Schließlich kam ihm die rettende die Idee: «Gut, ihr kommt nicht auf die Arche. Geht ja nicht rein! Für Esel gesperrt!» Da konnten sie plötzlich nicht schnell genug an Bord des Schiffs gelangen.

Und gerade weil die Geschichten aus der Bibel so spannend waren, fragte man sich, warum die Pastoren sie immer so langweilig erzählten. Ihnen zuhören zu wollen, war vollkommen sinnlos. Man verstand, was sie sagten, konnte es aber mit dem, was sie vor zehn Sekunden erzählt hatten, in keinen Zusammenhang bringen. Einfach, weil man es schon längst wieder vergessen hatte. So verbrachte ich die Zeit meist damit, die bunten Kirchenfenster anzusehen. Schlau wurde ich aus ihnen nicht.

Wenigstens würde ich beim Gottesdienst in der Schwedischen Seemannskirche halbwegs ausgeschlafen sein. Ganz anders als neulich, als ich auf eine lange Nacht hatte zurückblicken können. Mein großer Bruder und ich hatten bis vier Uhr morgens an seinem Computer gesessen und das Killerspiel Capitalism gespielt. Eine ziemlich lehrreiche Aktion. Endlich wusste ich, mit welchen Rohstoffen ein solcher Computer hergestellt wurde und wie sie zu beschaffen waren.

Der Gottesdienst in der Schwedischen Seemannskirche begann ganz klassisch: Der Pastor trat nach vorne und hieß alle Anwesenden willkommen. Er machte eine Handbewegung in unsere Richtung und setzte sein wärmstes Lächeln auf.

«Ich möchte besonders begrüßen den Neuen Knabenchor Hamburg, der uns heute musikalisch durch den Gottesdienst begleiten wird», sagte er. Ich hielt es zumindest nicht für ausgeschlossen, dass er das sagte. Sein Deutsch war leider kaum weniger schwer verständlich als das Schwedisch, in dem er nun losbrabbelte. Die Zeit begann sich schon jetzt zu dehnen.

Das konnte ja heiter werden.

Wenigstens war die Kirchenbank bequem. Für die Verhältnisse von Kirchenbänken zumindest. Für die Verhältnisse eines Sofas, eines Stuhls oder eines Schemels war sie unbequem. Höllisch unbequem. Keine halbe Minute verging, bis ich das erste Mal versuchte, eine Sitzhaltung zu finden, die halbwegs erträglich war. Ein zweckloses Unterfangen. Ich verdrehte die Augen. Der Pastor nickte mir und den anderen Knaben dennoch freundlich zu und fasste das bisher Gebrabbelte kurz auf Deutsch zusammen.

Nun ging es ans Beten, für mich stets eine heikle Situation. Ich wusste einfach nicht, was ich tun sollte. Die Hände falten und zusammen mit den anderen «Ich glaube an Gott» sagen, obwohl das eigentlich gar nicht stimmte? Oder einfach stumm dastehen und dafür eventuell schief angesehen werden?

Es war ja nicht so, dass mir unsympathisch war, was ich inzwischen über das Christentum wusste. Weiß Gott nicht. Es war doch sehr lobenswert, immer zu allen Leuten nett zu sein, selbst wenn diese böse zu einem waren. Und nach dem Tod an einen Ort kommen, an dem stets alles schön war, wer wollte das nicht? Ich hatte überlegt, ob ich vorsichtshalber ab jetzt auch immer lieb sein sollte – nicht, dass das mit der Hölle am Ende stimmte. Doch letztlich: Wenn man sein ganzes Leben lang immer zu allen nett gewesen sein musste, um ins Paradies zu dürfen, war es für mich sowieso längst zu spät. Ich fragte mich, wie Christen das überhaupt schafften. Schließlich waren die doch auch mal in einem Alter gewesen, in dem sie von Gott nichts gewusst hatten. Zählten diese Jahre dann nicht? Und was war, wenn man zum Beispiel ohne es zu wollen, ohne es überhaupt zu merken, auf ein Insekt trat? Das passierte doch jedem mal.

Ich machte es wie immer: Ich faltete die Hände und murmelte die Passagen mit, die ich halbwegs beherrschte. Dabei stellte ich mir vor, wie von den Händen aller Betenden kleine Strahlen ausgingen, die in den Himmel leuchteten.

Nach dem Gebet sangen wir alle gemeinsam eines der Lieder aus dem seltsamen Buch, das einem zu Anfang jedes Gottesdiensts in die Hand gedrückt wurde. Seine Seiten waren dünn wie Bonbonpapier. Man hatte beim Umblättern jedes Mal Angst, dass sie reißen könnten. Der Grund war wohl, dass die Lieder zum Teil aberwitzig viele Strophen hatten. Sonderbarerweise wurden aber nie alle gesungen.

Die Orgel begann zu dröhnen. Zwischen allerlei Verzierungen ließ sich die Melodie des Gesangs ausmachen, der an der Reihe war. Das war gut, denn so sehr ich mich auch mühte: Ich kam einfach nicht dahinter, wie es manchen im Chor gelang, ein Lied zu singen, ohne es jemals gehört zu haben. Sie sahen auf das Notenblatt und sangen los. Immer wieder hatte ich versucht, es ihnen nachzumachen. Doch in meinem Kopf hatte die Melodie stets völlig anders geklungen als die, die wir schließlich gesungen hatten.

Das heutige Lied passte irgendwie zu der Vorstellung, die ich beim Beten gehabt hatte. Zumindest glaubte ich das: «Strahlen brechen viele aus einem Licht», sangen wir.

Ich musste doch sagen, dass unser Chor dabei richtig schlecht klang. Es mochte damit zusammenhängen, dass wir das Lied nicht geübt hatten. Zudem waren wir die einzigen, die es nicht auf Schwedisch sangen. Der hauptsächliche Grund war aber ein anderer: Wir sangen einstimmig.

Natürlich fand ich, dass der Sopran die wichtigste Stimme war und war stolz, ein Teil von ihm zu sein. Da konnte unsere Chorleiterin noch so oft betonen, dass im Alt die Intelligenten saßen, die aus stinklangweiligen Tonfolgen hochdramatische Musik machen mussten. Ich wusste deshalb nicht, was ich befremdlicher finden sollte: Die Tatsache, dass es für Frau Siebenkittel nichts Schlimmeres gab als Chöre, bei denen man nur den Sopran hörte, oder die, dass manche Stücke Stellen enthielten, an denen wir aussetzen mussten. Trotzdem war ich mittlerweile zu dem Schluss gekommen, dass die anderen Stimmen dazugehörten. Man konnte ihnen eine gewisse Daseinsberechtigung zumindest nicht gänzlich absprechen. Und eines stand bereits jetzt fest: Nach dem Stimmbruch wollte ich Bass sein. Tenöre – Männer, die hoch sangen – gingen ja wohl gar nicht.

Zum sicher hundertsten Mal heute schielte ich auf Vinzents Armbanduhr. Es war kurz vor Elf. Nicht mehr lange, und der Pastor würde seinen Segen sprechen und wir dürften endlich nach Hause gehen.

Der Pastor sprach seinen Segen aber nicht. Zunächst wollte ich es nicht wahrhaben, doch dann begriff ich allmählich: Offenbar dauerten schwedische Gottesdienste wesentlich länger als deutsche. Eine ganze Stunde lang mussten wir noch auf der Kirchenbank ausharren und dem Gebrabbel lauschen. Als es endlich vorbei war, wollte ich nur raus hier. Raus zu Karlsson vom Dach und zu Capitalism.