Ansichten einer Auferstehung
Perlen von Holstein Folge 26
August 1998
Nach dem Chorwettbewerb waren die handgeschriebenen Noten des Domhardts aus den Mappen geräumt worden. An ihre Stelle war ein Stück getreten, das ebenfalls vom Sterben handelte. Dennoch war es keine moderne Klassik. Unser Leben ist ein Schatten stammte von Johann Bach, laut Frau Siebenkittel war das ein Vorfahr Johann Sebastian Bachs. Ein Mensch also, der vor langer, langer Zeit gelebt hatte.
Das änderte nichts daran, dass auch dieses Lied vom Tod eine Herausforderung war. Dies galt besonders für den ersten Teil, der uns Sopranen das Äußerste abverlangte. Wie Exsultate Deo kam er mit wenigen Worten aus, die dafür ständig wiederholt wurden: ‹Unser Leben ist ein Schatten auf Erden› Die ganze Tücke lag dabei in dem Wörtchen Schatten. Es war grundsätzlich mit einer irrsinnig langen, irrsinnig hohen, irrsinnig schnellen Tonfolge unterlegt. Unmöglich, sie zu singen, ohne dass es klang wie eine heisere Bratsche, deren Spieler der Bogen ausrutschte. Selbst den Favoriten gelang es nur mit Mühe. Unseren Lohn erhielten wir, wenn es endlich hieß: ‹auf Erden›. Das klang irgendwie wie eine Warnung, auch wenn ich nicht so recht verstand, wovor.
Am liebsten war mir der zweite Teil. Drei unserer Favoriten – ein Alt, ein Tenor und ein Bass – stellten sich ans hintere Ende unseres Probenraums und bildeten den Fernchor. Oder Gruftchor, wie Frau Siebenkittel ihn nannte. Sie meinte, das seien die Stimmen, die aus dem Jenseits zu uns sprechen. Was eine Gruft war, hatte mir Vinzent einmal erzählt, als wir im Michel gewesen waren. Das war ein großes Gewölbe, das sich unterhalb einer Kirche befand. Dort wurden Leichen aufbewahrt. Deshalb und weil kein Lichtschein je dorthin gelangte, hatten viele Menschen Angst, sie zu betreten. Man konnte lebendigen Toten begegnen, hieß es.
Das war jedoch nicht das Bild, was ich bei diesen Klängen vor Augen hatte. Ich sah unsere Favoriten in dicke Regenjacken gehüllt. Einer von ihnen hatte eine Petroleumlampe in der Hand. Sie standen auf dunklen Holzplanken und trugen mit ernster Miene ihren Text vor: «Ich weiß wohl, dass unser Leben oft nur als ein Nebel ist, denn wir hi-ier zu jeder Frist mit dem Tode seind umgeben, drum ob’s heute nicht geschicht: Meinen Je-esum lass ich nicht.»
Über den dritten Teil hingegen hätte ich mich stundenlang aufregen können. Das lag weniger an der Musik, als vielmehr am Text: ‹Ich bin die Auferstehung und das Leben, wer an mich gläubet, der wird leben.› So, der Johann Bach war also die Auferstehung. Wie konnte ein Mensch so eingebildet sein, derartiges von sich zu behaupten? Auferstanden war nach meinem Kenntnisstand in den vergangenen zweitausend Jahren nur einer: Jesus. Und genau von dem war im vierten Teil die Rede. Er wurde abermals vom Gruftchor vorgetragen: «Weil du vom Tod erstanden bist, werd’ ich im Grab nicht bleiben, mein höchster Trost dein Auffahrt ist, Todsfurcht kann sie vertreiben.» Das machte die Verwirrung erst richtig komplett. Hieß das nun also, weil Jesus aufgestanden war, war Johann Bach die Auferstehung oder wie oder was? Ich hatte das ja bisher immer so verstanden, dass man deswegen ins Paradies kommen konnte, nicht mehr, nicht weniger. Johann Bach aber schien anderer Meinung zu sein, zumindest, wenn es um ihn ging. Da kam sich aber jemand ganz besonders wichtig vor.
Der fünfte Teil dann war in ganz besonderer Hinsicht eine Herausforderung. Er bestand aus zwei Strophen. Die erste begann mit ‹Ach, wie flüchtig, ach, wie nichtig›, die zweite mit ‹Ach, wie nichtig, ach, wie flüchtig›. Vom ersten Moment an war klar gewesen, worauf das hinauslaufen würde: Regelmäßig ging irgendein Knabe in die Falle und vertauschte die Wörter. Es verstand sich von selbst, dass er nicht mit mildernden Umständen zu rechnen hatte konnte. Frau Siebenkittel ahndete jeden Verstoß mit der gebührenden Härte. Dennoch mochte ich die Stelle. Wenn wir sangen: «Alles, alles, was wir sehen, das muss fa-allen und vergehen», hatte ich Bilder einstürzender Tempelanlagen und Paläste vor Augen, wie man sie oft in Filmen sah.
Im sechsten und letzten Teil bot das Stück schließlich ein wenig von der Dramatik des Domhardts. Wir Soprane mussten plötzlich unglaublich hoch singen, was besonders am Ende der Probe nicht immer leicht war. Unsere Töne klangen so mehr wie ein ängstliches Geschrei. Das stand den Worten, denen sie unterlegt waren, aber ganz vortrefflich: ‹Ach Herr, lehr uns bedenken wohl, dass wir sind sterblich allzumal. Auch wir allhier keins Bleibens han, müssen alle davon, gelehrt, reich, jung, alt oder schön, müssen alle davon.› Merkwürdigerweise war es die einzige Stelle des gesamten Werks, die in gewisser Weise lustig war. Das Wörtchen ‹jung› nämlich wurde nur von den jungen Stimmen, also uns Sopranen, das Wörtchen ‹alt› nur von den älteren, also den Alten und Männern, gesungen. Ich fragte mich, ob Johann Bach das wohl absichtlich so gemacht hatte.
Unser Leben ist ein Schatten war ein Werk, dem gelang, was sonst nie wieder einem Werk gelingen sollte. Meine Mutter sah, nachdem sie es zum ersten Mal gehört hatte, gar nicht glücklich aus. Sie wirkte beinahe bestürzt.
«Also, dieses Unser Leben ist ein Schatten ist ja wirklich schön und ihr und die Solisten habt das auch toll gesungen, aber irgendwie wird man davon depressiv –», sagte sie.
Das konnte ich nun ganz und gar nicht nachvollziehen. Den letzten Teil einmal ausgenommen, klang das Stück doch kein bisschen traurig. Die Gruftchöre waren doch sogar ziemlich fröhlich, was für ein Lied vom Tod schon etwas sonderbar war. Was also machte sie daran depressiv? Ich musste ja sagen, dass mir die ständige Wiederholung einer und derselben Botschaft eher ein wenig auf die Nerven ging. Das Leben wurde als Schatten und als Nebel bezeichnet, als flüchtig und als nichtig, bis es auch der Letzte verstanden hatte. Dabei wusste doch nun wirklich jedes Kind, dass wir alle irgendwann einmal sterben müssen. Das brauchte man doch niemandem mehr zu sagen, schon gar nicht so oft.
Ich behielt meine Meinung aber für mich, sondern fragte stattdessen: «Ist unser Leben denn ein Schatten?»
«Naja, wenn du dir vorstellst, wie groß das Universum ist und wie lange es das schon gibt, ist unser Leben schon ein Schatten.»
Jetzt begriff ich gar nichts mehr. Ich dachte, in Unser Leben ist ein Schatten ginge es um den Tod, was fing sie da an, vom Universum zu faseln?
Ich fragte nicht weiter nach. Sie würde schon wissen, was sie damit meinte.