Verworren

Perlen von Holstein Folge 30

Fast schon unverschämt modern war er gewesen, der Bus, mit dem wir gestern vom Flughafen zu unserem Kibbuz gebracht worden waren. Deutlich moderner als jener, mit dem wir nach Regensburg gefahren waren. Der, der mit dem wir heute nach Jerusalem und wieder zurück reisen sollten, sah hingegen so aus, als wäre er von Rainbow Tours ausgeliehen worden.

Rainbow Tours war ein Unternehmen, das in den Linienbussen der Hamburger Hochbahn mit Sprüchen wie ‹Spaß, Party und neue Freunde› und Bildern von Frauen in Bikinis und Männern in Badehose für Wochenendtrips nach Lloret de Mar warb. Dem Anblick eines derartiges Plakat eine halbe Stunde lang ausgesetzt zu sein, war fürchterlich ätzend. Beinahe so ätzend, wie von dem schönen Einzelplatz, vor dem es hing, mit den Worten ‹Bist du behindert?› von einem Rentner verdrängt zu werden. Mit Genugtuung hatte ich zur Kenntnis genommen, dass das Unternehmen dafür bekannt war, dass seine Reisebusse öfter mal auf offener Strecke liegenblieben.

Und genau solch ein Gefährt schien es, wie gesagt, zu sein, vor dem wir nun standen. Es war alt. Nicht sechzig Jahre wie die Züge, die in Hamburg auf der S-Bahn-Linie Eins fuhren, aber sicher alt genug. Außerdem war es vollständig in einem grellen Lilaton gehalten. Als sich die Tür öffnete und die ersten hineindrängten, stöhnten sie hörbar auf. Nachdem auch ich mich endlich zur Eingangstreppe vorgekämpft hatte, spürte ich, was der Grund dafür gewesen war: Die Luft im Innenraum war merklich verbraucht. Mir war bereits jetzt übel. Dabei waren wir doch noch nicht einmal losgefahren.

Wenigstens war mir der Busfahrer auf den ersten Blick sympathisch: An seiner Fahrerkabine hingen lauter Aufkleber: ‹Shalom›, stand auf ihnen. Das bedeutete Frieden und war, wie ich mittlerweile verstanden hatte, etwas sehr Feines.

In der ersten Reihe saß ein Fremdenführer. Während der Fahrt gab er uns einen Überblick über Land und Leute. Dabei bewies er durchaus Improvisationstalent. Als der Bus auf der Autobahn zum Stehen kam, sagte er: «Ja, wie ihr seht, sind wir in Israel stolze Leute. Bei uns gibt es Staus wie bei euch.»

Alles um mich lachte, also lachte ich mit. Ich lachte auch mit über die Bemerkungen des Mannes mit dem schwarzen Hut und dem Rauschebart. Er führte uns durch irgendein altehrwürdiges Gemäuer. Was an seinen Äußerungen so komisch war, erschloss sich mir nicht. Ich lachte dennoch mit. Ich lachte ja auch immer mit, wenn mein Bruder und ich gemeinsam Die Wochenshow sahen und sie sich dort über irgendwelche Politiker lustig machten. Es war einfach so schön, gemeinsam über etwas lachen zu können. Wen interessierte es da schon, dass man die Witze eigentlich nicht verstanden hatte? Wobei: Meinen Bruder interessierte es schon. Er machte mir immer wieder Vorhaltungen. Ich lachte trotzdem weiter mit.

Ansonsten stellte sich bei mir bald eine Erkenntnis ein: Ob man nun durch Israel spazierte, durch Regensburg oder durch das Freilichtmuseum am Kiekeberg: Sightseeing war wirklich überall gleich langweilig. Ein wenig spannend wurde es erst, als wir durch die Gassen von Jerusalem schlenderten. Marc zeigte uns, wo Jesus auf dem Weg zur Kreuzigung überall langgekommen war. Es ging bergauf, treppab, nach links, nach rechts, durch Unterführungen und über Mauerstücke, bis auch der letzte die Orientierung verloren hatte. Diese Stadt war wirklich verworren. Laut Marc verdankte sie ihren jetzigen Zustand dem Brauch, neue Häuser einfach auf alte, nicht mehr benötigte draufzusetzen. So war Jerusalem immer höher gewachsen. Unter unseren Füßen aber war alles immer noch so, wie es vor Jahrhunderten gewesen war, man konnte es nur nicht sehen. Es war fast ein wenig wie in Enid Blytons Der Fluss der Abenteuer.

Beinahe jede Gasse wurde von Kneipen, Gaststätten, Gemüse- und Gemischtwarenläden gesäumt. Nichts davon hatte mein Interesse zu wecken vermocht, zum Bummeln bestand sowieso keine Gelegenheit. Was meine Augen nun aber sahen, ließ mich schon auf Gedanken kommen. Hard-Rock-Cafe-T-Shirts verkauften sie hier. Mein Bruder war vor drei Monaten in London gewesen und hatte sich dort ein solches T-Shirt gekauft. Er war sehr stolz darauf. Darum trug er es nur zu besonderen Anlässen und auch sonst bei jeder Gelegenheit. Laut ihm gab es in jeder bedeutenden Großstadt der Welt ein Hard Rock Cafe. Ein hier erstandenes T-Shirt war ein wertvolles Souvenir. Nun stand auf den hier hängenden nicht Hard, sondern Hot Rock Cafe. Ich konnte aber wohl davon ausgehen, dass das etwas ganz Ähnliches war. Zudem gab es sie hier nicht nur in schnödem Weiß, sondern auch in edlem Schwarz. Ja, das war doch was für mich.

«Mensch, Lenni-Löwe, was stehst du hier doof rum? Glaubst du, du findest den Weg nachher alleine?», riss es mich aus meinen Gedanken. Es war Peter, der so redete.

Peter war der Mann von Heidi. Wer von ihnen sprach, sagte stets Heidi und Peter. Man mochte das für einen Witz halten, doch die beiden hießen tatsächlich so. Möglich, dass die beiden damals gedacht hatten: «Wenn wir heiraten, wird sich jeder fragen, ob wir beide wirklich so heißen.» Möglich, dass es wirklich nur ein lustiger Zufall war. Jedenfalls schliffen die beiden mich jetzt von den Hot-Rock-Cafe-T-Shirts weg zu den anderen Knaben. Die waren inzwischen gut hundert Meter vorangekommen.

Der Spätnachmittag versprach noch einmal, langweilig zu werden. Wir unternahmen eine Bootstour. Als ob das nicht etwas völlig Alltägliches wäre. Einige von den älteren Knaben versuchten das Beste daraus zu machen und sangen eine alternative Textfassung von Hevenu Shalom Aleichem.

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Zwergo stand der Sinn nach etwas gänzlich Anderem.

«Ey, Lenni-Löwe, wollen wir uns mal vorne an die Reling stellen und Titanic nachspielen?»

Zwergo war der Sohn von Heidi und Peter und schon ziemlich alt. So sechzehn, siebzehn vielleicht. Wenn nicht gar älter. Er war ein lustiger Geselle. Eben ein Mensch, der auf die Idee kam, mit Lenni-Löwe eine Szene aus dem Film Titanic nachzuspielen. Als ich zu meinem zehnten Geburtstag Lion-Schokoriegel verteilt hatte, hatte er mir das Titellied von König der Löwen vorgesungen.

Titanic hatte ich vor einigen Wochen mit meiner großen Schwester Annika auf Video angesehen. Während Leonardo DiCaprio im kalten Atlantik erfroren war, hatte sie mir erzählt, ihre Freundinnen hätten bei dieser Szene einen entsetzlichen Weinkrampf bekommen. Ich hatte das ähnlich wenig nachvollziehen können wie sie. Das war schon bemerkenswert: Bei König der Löwen würde ich wohl auch beim fünfzigsten Mal noch mit meiner kleinen Schwester um die Wette heulen, wenn Mufasa starb.

Ich kam Zwergos Bitte dennoch mit Freuden nach. Wir stellten uns an die Reling wie Kate Winslet und Leonardo DiCaprio. Die Fotos, die davon gemacht wurden, sollte ich nie zu Gesicht bekommen.