Traditionswechsel

Perlen von Holstein Folge 33

November 1998

Lennart Schuett

Ein Jahr war es nun her, mein Debüt als Sänger des Neuen Knabenchors Hamburg. Stattgefunden hatte es in der Kreuzkirche Ottensen. Ich war fest davon ausgegangen, hierher zurückzukehren, kehrten wir doch an alle Auftrittsorte Jahr für Jahr zurück. Doch hatte es anders kommen sollen. Ein Engagement im Michel hatte gelockt, da hatte Marc nicht nein sagen können und der Ottenser Gemeinde für dieses Jahr abgesagt. Er hatte damit nicht weniger als einen Traditionsbruch begangen – bisher war jede Weihnachtssaison des Knabenchors in der Kreuzkirche eröffnet worden. So erzählte es mir zumindest meine Mutter, die ganz und gar nicht begeistert davon war.

Der Auftritt im Michel fand statt, war aber nicht der diesjährige Auftakt der Weihnachtssaison. Es war das Altersheim Tabea, dem diese Ehre zufallen sollte. Ausgerechnet, wollte man sagen. Noch zu gut erinnerte ich an jenen Augenblick, in dem ich mich vor allen Leuten gemeinsam mit den Neuen hatte hinsetzen müssen. Ich hegte aber keinen Groll gegen diesen Ort, Schuld war schließlich einzig und allein meine eigene Dummheit gewesen. So war ich ganz im Frieden mit mir, als meine Mutter und ich dort eintrafen.

Links vom Eingang saß hinter einer Glasscheibe ein Mann. Meine Mutter ging zu ihm hin, um ihm den Grund für unsere Anwesenheit zu erklären, doch er sah nur kurz auf meine Chorhose und winkte uns durch. Wir durchquerten einen langen gläsernen Gang, der durch eine Art Park führte. Sein Sinn schien es zu sein, die Freude des Anblicks von Natur mit den Vorzügen eines geheizten Raumes zu verbinden. Den Bewohnern dieses Hauses konnte man wohl keinen größeren Gefallen tun.

Am anderen Ende des Ganges trafen wir die ersten von ihnen. Sie schlurften mit Krückstöcken und Gehwagen umher oder saßen scheinbar geistesabwesend auf Stühlen und Bänken herum. Als sie mich sahen, bedachten sie mich mit jenem speziellen seligen Lächeln, mit denen Menschen ihres Alters uns immer bedachten, wenn sie uns in unseren roten Pullovern sahen. Das Rote-Pullover-Lächeln. Das und der Glanz in ihren Augen färbten rasch auf mich ab. Ein Gefühl von Farbe, Freude und Festlichkeit ergriff mich. Ich freute mich riesig, endlich wieder Tochter Zion singen zu dürfen.

Der Raum, in dem wir auftraten, war zur einen Hälfte ein Veranstaltungssaal, zur anderen ein Wintergarten und von runder Form. Über der kleinen Bühne hing ein Weihnachtsstern, nicht weit davon entfernt ein Adventskranz. Für alles Weitere an Stimmung würden wir sorgen müssen. Eine denkbar einfache Aufgabe.

Die Reihen waren bis auf den letzten Platz gefüllt, als wir mit unseren Kerzen einzogen. Wir mussten aufpassen, nicht eine der Personen im Rollstuhl anzurempeln, die sich auf dem wenigen Bisschen an Restfreifläche breit gemacht hatten. Trotz des gedämmten Lichtes konnte deutlich man das Rote-Pullover-Lächeln in ihren Gesichtern erkennen. Es würde im Laufe der folgenden Stunde noch ausdrucksvoller werden.

Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit, bei Konzerten nie ein Wort zu sagen, uns höchstens mal den Namen des nächsten Stücks zuzuflüstern, wandte sich Frau Siebenkittel um und hielt eine kurze Eröffnungsrede. Das hatte sie auch schon letztes Mal getan, als wir hier aufgetreten waren, ebenso im Altersheim Albertinen. Sie redete dabei mit einer Stimme, wie ich sie seit meiner Zeit im Vorchor nur noch höchst selten aus ihrem Munde gehört hatte.

«Herzlich Willkommen zu unserem Konzert an diesem wunderschönen ersten Advent. Die Jungen und Männer sind ganz begeistert, auch dieses Jahr wieder hier sein zu dürfen und für Sie zu singen. Freuen Sie sich auf Tochter Zion, In dulci jubilo, Es ist ein Ros entsprungen und andere Weihnachtslieder, die Sie seit Ihrer Kindheit kennen und immer wieder gerne hören.»

Ich verwunderte mich der Rede. Tochter Zion und In dulci jubilo sollten bekannte Lieder sein? Das konnte doch gar nicht sein, sonst hätte ich sie ja wohl vor meinem Eintritt in den Chor schon einmal gehört oder gesungen. Doch vielleicht waren sie ja sowas wie Volksmusik, sowas wie Nun will der Lenz uns grüßen. Von Derartigem wurde ja auch immer behauptet, jeder würde es in- und auswendig kennen, obwohl nur alte Leute und meine Flötenlehrerin das taten. Aber nein, eigentlich konnte das nicht sein: Die Texte unserer Weihnachtslieder nämlich waren erträglich.

Wir sangen unser Tochter Zion und unser Es kommt ein Schiff, geladen. Melodien, die auch ein Jahr später noch kein bisschen von ihrer Wirkung verloren hatten. Ich war hingerissen. Dies setzte sich im Die Nacht ist vorgedrungen unserer Männer fort. Bevor wir nun gemeinsam mit ihnen Der Morgenstern ist aufgedrungen anstimmten, wandte Frau Siebenkittel sich erneut um.

«Sie sind ja die ersten, die dieses Jahr unser Weihnachtsprogramm hören dürfen, für uns ist das hier also sozusagen eine kleine Generalprobe. Für manche ist es aber auch eine richtige Premiere. Diejenigen unter Ihnen, die letztes Jahr dabei waren, haben sicher schon gemerkt, dass ganz viele, ganz junge Knaben neu dazugekommen sind: Unsere Neuen. Steht mal bitte auf!»

Die Knaben der ersten Reihe erhoben sich. Es handelte sich dabei wohlgemerkt nicht mehr um David, Imanuel und Companie, die waren seit unserer Rückkehr aus Israel vollwertige Mitglieder wie ich. Da vorne standen neue Neue.

«Ja, und viele von unseren Neuen sind nicht alleine im Chor, sondern haben noch einen großen Bruder, der schon seit längerem dabei ist. Und die stehen jetzt bitte auch mal auf.»

In solchen Momenten war ich froh, der einzige unter meinen Geschwister zu sein, der ein Faible für klassische Musik hatte. Vor den Augen all dieser Leute aufstehen zu müssen, wäre mir unendlich peinlich gewesen. Erst recht, weil ich ganz genau wusste, dass ihnen gefallen würde. Ihr mittlerweile fast außer Kontrolle geratenes Rote-Pullover-Lächeln sprach ja Bände.

Nach Der Morgenstern ist aufgedrungen zogen die neuen Neuen ab. Unsere Chorleiterin blickte ihnen mit einem Lächeln hinterher. Das war zwar wieder eine von diesen leidigen Vorzugsbehandlungen, deshalb aber nicht weniger erfreulich. So war nicht ich derjenige, der von ihr angesehen und zum Gehen aufgefordert wurde. Lenni-Löwe durfte heute stehen bleiben.

Frau Siebenkittel wandte sich abermals ans Publikum.

«So, nachdem unsere Neuen sich nun hingesetzt haben, singen unsere Großen jetzt In dulci jubilo. Und weil das ein Lied ist, das Sie alle kennen, dürfen Sie gerne mitmachen. Sie müssen natürlich nicht alles singen, keine Sorge, wir machen das so: Die Knaben singen immer die lateinischen Verse und Sie dann die deutschen!»

Obwohl uns die Zuschauer zahlenmäßig deutlich überlegen waren, konnten sie es lautstärketechnisch nicht im Mindesten mit uns aufnehmen. Unserem glockenklaren, lupenreinen Klang folgte stets ein kaum zu vernehmendes Gesäusel. Sie trafen die Töne und das war etwas, was man von meiner Klassenlehrerin erst einmal behaupten können musste, aber sie waren eben nur sehr schwer zu hören. Frau Siebenkittel war dennoch angetan.

«Das haben Sie wirklich klasse gemacht. Ich wette, Sie haben früher alle im Chor gesungen!»

Das Lachen, das sie erntete, erinnerte an das, was ich auf der Rückfahrt von Inzell geerntet hatte. Die Tür unseres ICEs hatte sich auch nach mehrmaligem Drücken des Knopfes noch immer nicht geöffnet. Völlig zu Recht hatte ich bemerkt: «Diese Türen sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren!» Das hatten die Leute um mich herum zum Schreien komisch gefunden. Irgendwie war der Humoranspruch von Erwachsenen manchmal so erstaunlich niedrig. Ich war sicher: Unsere Chorleiterin hätte auch einen bedeutend schlechteren Witz machen können und doch begeistertes Lachen geerntet. Die Menschen hier waren dankbar für alles, was ihnen geboten wurde.

Das war etwas ganz und gar Wunderbares. Anders als sonst speiste man uns hier nämlich nicht nur mit Ruhm und Ehre ab. Hier in Tabea wusste man sich wirklich erkenntlich zu zeigen.

Das Konzert war vorbei, das gemeinsame O du fröhliche gesungen. Ein Mann trat nach vorne, einen großen Korb in der Hand.

«Auch ich möchte mich noch mal ganz herzlich bedanken bei den Knaben und Männern des Neuen Knabenchors Hamburg, die uns auch dieses Jahr wieder so richtig in Feststimmung versetzt haben. Und weil ihr so toll gesungen habt, bekommt ihr alle zum Abschied einen großen Schokoladenweihnachtsmann und könnt euch drüben in unserem Café noch eine Kugel Eis abholen!»

Ich hatte in meinem Leben schon einige Schokoladenweihnachtsmänner verschlungen. Einen so großen jedoch noch nie. Wenn ich ihn auf Hüfthöhe hielt, reichte er mir bis weit in das Gesicht. Und was die Kugel Eis anging, würde es wohl wie im letzten Jahr schon nicht bei dieser einen bleiben. Damals war unsere Schlange von Omis umringt worden, die getan hatten, was Omis eben tun: Sie hatten uns allen noch eine zweite Kugel ausgegeben. Und ich war sicher: Hätte es zur Jahreszeit gepasst und wir hätten darum gebeten, wir hätten auch noch eine dritte und eine vierte bekommen.

Konnten nicht alle Auftritte ein wenig wie der hier in Tabea sein?