Herr, erbarme dich

Perlen von Holstein Folge 34

Dezember 1998

Unser Weihnachtsprogramm war im Vergleich zu dem vom Vorjahr weitgehend unverändert geblieben. Das war für mich nicht überraschend gewesen. Weihnachten zeichnete sich ja dadurch aus, dass man jedes Jahr das gleiche tat und jedes Jahr das gleiche sang. Es war ja immer wieder schön. Die wenigen Veränderungen sollten das Repertoire somit wohl nur ein klein wenig anders würzen und waren im Übrigen sehr begrüßenswert: Willkommen, süßer Bräutigam von Vincent Lübeck, besser bekannt als Weihnachtskantate, flog raus. Ich hatte es nie gemocht. Es klang einfach zu sehr wie diese nervige Bourrée von Händel, mit der eine Mitschülerin und ich seit Wochen von unserer Flötenlehrerin gemartert wurden. Überall Triller, Vorschläge und winzig kleine Noten. Es war schwer zu spielen und es war mal wieder weder fröhlich noch traurig. Und der Text schoss den Vogel ab. «Hilf, dass ich deine Süßigkeit stets preis in dieser Gnadenzeit.» Angesprochen fühlen sollte sich wie üblich Jesus. Und ich konnte mir irgendwie nicht vorstellen, dass der viel davon hielt, wenn man irgendeine seiner Süßigkeiten pries. Der hatte schließlich auch seine Würde.

Doch was regte ich mich auf, das Stück war ja weg. Fehlte nur noch, dass Kommet, ihr Hirten folgte. Das Lied als solches mochte ich, aber nicht diese seltsame Version, die wir davon sangen. Mit einer winzigen Ausnahme sangen wir Soprane niemals die Melodie, sondern immer nur lauter komische Sachen. Am Ende wurde es dann auch noch grässlich hoch. Da blieb natürlich nicht viel übrig von der Farbe, Freude und Festlichkeit. Was erwartete man aber anderes als Schelmereien von einer Komponistin, die Felicitas Kuckuck hieß?

Wie man es richtig machte, zeigte uns Günter Raphael. Von dem sangen wir seit diesem Jahr Maria durch ein Dornwald ging, das eigentlich Advents-Kyrie hieß. Das hing wohl damit zusammen, dass das ganze Stück lang immer wieder diese beiden Worte gesungen wurden: Kyrie eleison. Erst nur von den Männern, dann auch vom Alt und schließlich von uns Sopranen. Was sie bedeuteten, wusste ich nicht. Etwas Fröhliches jedenfalls nicht. So wie die Männer sie sangen, klang es, als würden sie ganz verzweifelt um etwas bitten. Als würden sie etwas dringend brauchen und es nicht bekommen, womit sie zum Tode verurteilt waren.

Als ich das das erste Mal gehört hatte, war ich den Tränen nahe gewesen. Nicht zu fassen, dass eine Melodie so traurig sein konnte.

Dazu gab es aber auch allen Anlass: Die arme Maria musste in finsterster Nacht durch einen Wald laufen. Einen Dornenwald sogar. Ich wusste seit meinem ersten Mal in Maschen, dass das keine lustige Sache war. Und wir waren ja nur durch einen normalen Wald gegangen und zudem zu zweit gewesen. Maria aber war ganz alleine und dann auch noch schwanger. Ich konnte mich irren, aber glaubte nicht, dass man da solche Strapazen vertrug. Meine Mutter hatte mir erzählt, dass früher viele Frauen während der Schwangerschaft oder bei der Geburt ihres Kindes gestorben waren. Warum also musste sie das tun? Warum geschahen in der Bibel gerade den netten Menschen immer solche fürchterlichen Dinge?

Immerhin wurde Maria, anders als ihr Sohn später, nicht am Ende ihres beschwerlichen Weges umgebracht. Die Dornen trugen dank ihr jetzt Rosen und das war doch etwas Schönes. Dennoch wurden die Musik am Ende nicht fröhlich, sie wurde nur heller. So hell, dass man glauben wollte, Maria wäre doch gestorben. Sonderbar, wirklich sonderbar.

Meine Mutter reagierte bekanntermaßen sehr empfindsam auf Musik. Die Matthäus-Passion fand sie erschütternd, Unser Leben ist ein Schatten machte sie depressiv. Ein Werk vom Schlag eines Maria durch ein Dornwald ging müsste ihr da doch kaum zuzumuten sein.

Gespannt wartete ich darauf, wie sie sich zu dem Stück äußern würde. Doch da kam nichts. Nicht nach der ersten Aufführung, nicht bei der zweiten Aufführung und auch nicht bei der zehnten Aufführung. Stattdessen schwärmte sie mir zum hunderttausendsten Mal vor, wie toll Vinzent singen konnte und wie bewundernswert sie es fand, dass er vor einer vollen Kirche alleine singen konnte. Kein Wort zur Advents-Kyrie. Ich wusste, dass das nur eines heißen konnte: Das Werk ließ sie vollkommen kalt. Wenn sie etwas betrübte, sagte sie das nämlich eigentlich immer. Ein so herzerweichendes Lied mit einer so herzerweichenden Geschichte betrübte sie also offensichtlich nicht. Sie betrübte es, wenn ein Komponist uns andauernd daran erinnerte, dass wir alle einmal sterben mussten.

Nun ja, jedem das Seine. Ich blieb dabei: Maria durch ein Dornwald ging war das traurigste Stück, was ich je gehört hatte.