Ein neues Zeitalter
Perlen von Holstein Folge 37
April 1999
Meine Flötenlehrerin lachte laut auf.
«Hahaha, ‹Felix Händelssohn Bartholdy›!»
Ich hatte ihr vom Chor und von Wirf dein Anliegen auf den Herrn und Verleih uns Frieden gnädiglich erzählen wollen. Stücke, die wir immer wieder mal sangen, weil sie eigentlich zu jedem Anlass passten. Sie beide stammten von Felix Mendelssohn Bartholdy, den ich im Eifer des Gefechts irgendwie mit Georg Friedrich Händel durcheinander gebracht hatte. Das war für mich durchaus erkenntnisreich. Mir war bisher nämlich gar nicht aufgefallen, dass diese zwei Namen sich so ähnlich waren. Ich hatte ja immer nur gefunden, dass man Händel recht leicht mit Haydn verwechseln konnte. Nicht nur, weil beide mit H anfingen, sondern auch, weil beide nach England gegangen und dort sehr erfolgreich gewesen waren. Wobei: Das war Mendelssohn soweit ich wusste ebenso.
Alles nicht so einfach. Und mein Versuch, meine Flötenlehrerin mit meinem Fachwissen zu beeindrucken, war damit wohl gescheitert. Da tröstete es wenig, dass ihr Lachen durchaus freundlich klang, ich es mit meiner Geschichte sogar hatte ernten wollen.
Sie hätte davon gehandelt, wie wir beim Singen der Textpassage ‹denn seine Gnade reicht soweit der Himmel ist› die Wörter ‹Himmel› und ‹ist› nicht sauber trennten.
«Oh, eine ganz schlimme List, eine Himmel-List!», sagte Frau Siebenkittel dann immer.
Das hätte meiner Flötenlehrerin bestimmt gefallen, ihr gefiel alles, was ich erzählte. Doch die Chance war wohl vertan.
Auf den Flötenunterricht folgte wie jeden Dienstag die Chorprobe. Hier wurden andere Gesprächsthemen angeschlagen. Jonas kam auf mich zu.
«Ey! Und, wieder Age of Empires gespielt?», fragte er mich.
«Klar, Mann! Mein Bruder und ich haben ja neulich irgendwie so dreißig Zenturios gebaut und die Gegner damit so platt gemacht. Die sind ja wohl auch so geil, Alter!»
«Findest du? Mir sind die ja zu lahm, ich benutz’ lieber berittene Bogenschützen.»
«Die sind doch voll schwach, Mann! Zenturios sind viel besser. Die haben ja so ein geil langes Schwert, damit könnten die voll Stabhochsprung über die gegnerische Mauer machen.»
«Naja, wenn sie halt schneller wären.»
Vor drei Monaten war Age of Empires in mein Leben getreten und hatte es gründlich auf den Kopf gestellt. Ich war ja etwas skeptisch gewesen, als unser Onkel es uns überlassen hatte. Das Killerspiel war schließlich ab zwölf und das, was man gemeinhin Kriegsspiel nannte. Dann aber hatte ich es ausprobiert. Als Herrscher einer Steinzeitsiedlung auf einer Insel im Nildelta hatte ich mich rasch gefühlt wie Robinson Crusoe, den es in eine Bibelgeschichte verschlagen hatte. Und in dieser Bibelgeschichte ging es heiß her, so wie es in meinen Vorstellungen immer in ihnen vorgegangen war. Nicht hausbacken, wie in den Zeichentrickfilmen, die wir im Religionsunterricht gesehen hatten.
Die Konfrontation mit dem Feind hatte ich zunächst gemieden. Zu groß war die Furcht gewesen, vom Anblick all der vorsätzlichen Tötungen Albträume zu bekommen. Bald aber war der Kampf unvermeidlich geworden und ich hatte schnell gemerkt, dass alles im Grunde halb so wild war. Bildschirmgewalt war nichts, vor dem man Angst haben musste.
Mein Klassenkamerad Benjamin musste diese Entwicklung irgendwie gerochen haben. Völlig unvermittelt war er vor dem Schultor auf mich zugekommen.
«Ey, Lennart, hast du gestern James Bond gesehen?»
«Nein, ich habe Age of Empires gespielt –»
Ich hatte darauf geachtet, dies so beiläufig wie möglich klingen zu lassen. Er sollte ja schließlich glauben, dass ich sowas schon immer gespielt hatte. Dann hörte er vielleicht endlich auf, mich andauern zu piesacken. Seine Reaktion aber hatte meine kühnsten Erwartungen noch übertroffen.
«Cool, Age of Empires! Ey, wollen wir Freunde sein?»
Da hatte ich natürlich nicht nein sagen können. Fortan hatten wir uns zu jeder Zeit über das Killerspiel ausgetauscht. Vor der Schule, nach der Schule und auch schon mal währenddessen. Wir debattierten über Streitwagen, Katapulte und Triremen. Vornehmlich ging es darum, die Frage zu klären, was davon am brutalsten war. Was Benjamin an Age of Empires nämlich so faszinierte, konnte er kurz und knackig auf den Punkt bringen: «Das ist voll brutal, Mann!».
Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Auch Richard Wagner war in seiner Jugend ein Freund des Brutalen. Dreizehn Jahre alt war er, als er die Arbeiten an seinem ersten Bühnenstück, Leubald und Adelaide, begann. Zweiundvierzig Personen sollten darin aus dem Leben scheiden. Seine Halbschwester Cäcilie war begeistert davon. Jeden Abend fragte sie ihn «wie weit denn inzwischen der Massenmord gediehen sei». Letztlich waren es aber nur vierzehn Menschen, die durch den Dolch oder Gift aus dem Leben schieden.
Benjamin war übrigens – und somit jetzt auch ich – jemand, der gerne Akte X sah. Schnell war er mit meiner großen Schwester darüber ins Gespräch gekommen, als er einmal bei uns zu Gast gewesen war. Es war natürlich auf sein Wohlwollen gestoßen, dass sie seine Leidenschaft für diese Serie teilte. Was er hingegen nicht verstanden hatte, war, dass sie nicht auch Outer Limits mochte.
«Aber Outer Limits ist manchmal sogar brutaler als Akte X!»
«Naja, aber bei Akte X geht es ja nicht darum, dass das brutal ist. Das geht da mehr um die Fantasy.»
Sie war schon eine wunderliche Person, meine Schwester.
Benjamin besaß übrigens, was Akte X und was alles andere anging, unglaubliches Fachwissen. Eines jedoch war ihm nicht aufgefallen. Die Worte, die der Bösewicht in einer Folge sprach – ‹Ich bin die Auferstehung und das Leben, wer an mich gläubet, der wird leben› – sie kamen mir doch sehr bekannt vor. Die stammten doch aus Unser Leben ist ein Schatten. Nachmacher.
Mit Jonas hatte ich auch im Chor jemanden gefunden, der meine Leidenschaft für Age of Empires teilte. Jonas war das, was man gemeinhin als coolen Typen bezeichnete. Jemand, der sich nicht an alle von Erwachsenen aufgestellten Regeln hielt. Jemand, der Kleineren auch schon mal zeigte, wo es langgeht. Man war wer, wenn man ihn um sich hatte.
Wir verbrachten viel Zeit zusammen. Zu viel in den Augen Frau Siebenkittels, die uns auch heute wieder gesondert auffordern musste, uns endlich hinzusetzen. Dem kamen wir durchaus nach. Das hatte jedoch nicht zu bedeuten, dass jetzt Ruhe war. Ich saß zwischen Jonas und Vinzent. Links von Vinzent saß Max-Frederick.
Letzterer kultivierte seit einiger Zeit ein kleines Spiel: Er tippte dem vor ihm sitzenden Knaben so auf die Schulter, als würde er etwas zu ihm sagen wollen. Drehte der sich dann um, fuhr Max-Frederick ihn an: «Boah, guck nach vorne!»
Ich hatte das neulich selbst mehrmals ausprobiert. Es funktionierte wirklich immer.
Frau Siebenkittel war über den häufigen Krawall gar nicht begeistert. Einmal, als es richtig ausgeufert war, hatte sie sich veranlasst gesehen, uns eine kleine Geschichte zu erzählen.
«Ihr habt glaube ich manchmal keine Vorstellung, wie gut es euch eigentlich geht. Wisst ihr, als ich ein Kind war, das war eine ganz schlimme Zeit, da hatten die Leute nichts, da gab es kaum was. Und meine Mutter, die hatte ganz furchtbare Probleme, uns alle satt zu machen. Und als das Geld wieder einmal nicht gereicht hat, war sie schrecklich traurig. Das hat sie zwar nicht gesagt, das haben wir aber gemerkt. Und da habe ich mein Sparschwein geöffnet und ihr einen Fünf-Pfennig-Schein gegeben, damit sie es etwas leichter hat. Und ich finde das ist etwas, an das ihr ruhig öfter mal denken könnt: Dass es den Menschen früher nicht so ging und ihr wirklich dankbar sein könnt, heute zu leben.»
Es war daraufhin tatsächlich für den Rest der Probe ganz still geworden, doch war die Wirkung der Geschichte nicht von Dauer gewesen. Schon in der darauffolgenden Woche hatten wir wieder gealbert und gelärmt, als wäre nichts geschehen.
Heute gab sich Frau Siebenkittel von unseren Schelmereien demonstrativ unbeeindruckt.
«Wir proben jetzt Verleih uns Frieden», sagte sie. Eines der Stücke von Felix Händelssohn.
«Es ist doch ja kein andrer nicht, mit dem wir könnten streiten», säuselte ich. Vinzent und Jonas kicherten. Textumdichtungen wurden immer gerne gehört.
Jetzt aber mussten wir uns in Disziplin üben. Frau Siebenkittel gab ihren Einsatz.
Wir sangen: «Verleih uns Frieden gnä-ädiglich, Hergott, zu u-unse-ern Zeiten –»
Ich spürte, wie es warm in meiner Brust wurde und fragte mich, ob es meinen Brüdern wohl ähnlich ging.