Der Wald der Abenteuer

Perlen von Holstein Folge 38

August 1999

Die Mittagspause bedeutete in Maschen alle Chorwochenenden wieder zwei Stunden gepflegter Langeweile. Es wurde ausdrücklich niemand zum Schlafen gezwungen, doch wer laut sein wollte, sollte gefälligst nach draußen gehen. Für das Räuber-und-Gendarm-Spiel der anderen konnte ich mich jedoch traditionsgemäß wenig begeistern, für den Fußball noch viel weniger. Und den Gerätschaften des Waldspielplatzes traute ich nicht über den Weg. So blieb mir meist nichts anderes übrig, als auf dem Bett zu sitzen und zu lesen.

Dieses Mal jedoch sollte alles anders sein.

Ein Knabe kam zu mir ins Zimmer gestürmt. Er war sichtlich aufgeregt.

«Lenni-Löwe, Lenni-Löwe, hast du schon gehört?»

«Was?»

«Vinzent und Imanuel haben so ’ne Hütte gefunden, in der irgendjemand gekidnappt wird!»

Ich musterte ihn. Er war einer von den Neuen und somit in einem Alter, in dem man sich noch leicht einen Bären aufbinden ließ. Wahrscheinlich hatte Vinzent genau das getan. Er war ja bekannt dafür, gerne mal einen Jux zu machen.

«Ja, klar –», sagte ich.

«Nein, ehrlich! Die Tür ist abgeschlossen und durch die Fenster kann man Bilder von ’ner nackten Frau sehen. Los, komm, die wollen uns das zeigen!»

Ich wusste immer noch nicht so recht, was ich von der Geschichte halten sollte. Doch hätten die beiden ihn nur verschaukeln wollen, hätten sie ihn sicher nicht nach mir ausgeschickt. Ich kam also mit ihm mit. Nicht, dass ich am Ende noch etwas Aufregendes verpasste.

Vinzents und vor allem Imanuels Augen waren weit aufgerissen, ihre Gesichter bleich.

«Da bist du ja endlich!», sagte Imanuel, «Los, komm, das musst du echt mal sehen!»

Ich hatte wohl wirklich keinen Grund, an der Wahrheit der Geschichte zu zweifeln.

Gemeinsam zogen wir los: Vinzent, Imanuel, Jonas, David, Christopher und noch einige andere. Wir gingen abseits der Wege mitten durch den Wald. Der war zwar nicht sonderlich dicht, dafür aber umso hügeliger. Schnell hatten wir das Heim und seinen Probensaal aus dem Blickfeld verloren.

Imanuel und Vinzent führten uns zu einer Senke. An ihrer tiefsten Stelle stand ein Holzgebilde, das aussah wie eine Hütte oder eine Art Schuppen. Es konnte auch ein Stall sein. Jedenfalls war es nichts, das man hier mitten im Wald vermuten würde. Der Ort war aber, wie ich fand, geschickt gewählt. Von der Ferne konnte man es in dieser Senke nicht sehen und selbst wenn man relativ nahe dran stand, musste man schon zweimal hinsehen, um es zwischen den Bäumen zu entdecken. Wer auch immer es gebaut hatte, schien gewollt zu haben, dass man es nicht findet.

Mit bedächtigen Schritten gingen wir näher heran. Die Scheiben waren voller Sprünge, von den Wänden blätterte die Farbe ab und die Tür hing schief in den Angeln.

«Da, guckt mal!», sagte Imanuel.

Hinter einem Drahtnetz lag zwischen Gerümpel und Bierdosen die Filzstiftzeichnung einer nackten Frau. Das war der Beweis. Hier ging etwas nicht mit rechten Dingen zu.

Ich spürte, wie ich innerlich jubilierte. Ich hatte schon so viele Abenteuerromane von Enid Blyton gelesen. Immer wieder hatte ich mich gefragt, wann mir eigentlich mal sowas passieren würde. Wann ich mal mit einer Gruppe von Kindern einen Schatz finden oder eine kriminelle Machenschaft aufdecken würde. Endlich war es soweit. Wie freute ich mich schon auf die staunenden Blicke der Erwachsenen. Jetzt mussten wir nur noch das Beweismaterial sichern.

Die anderen schienen ähnlich zu denken.

«Glaubt ihr, wir kommen an das Bild ran?», fragte jemand.

«Nein, das liegt zu weit weg, das schaffen wir nie.»

«Traut sich einer von euch, die Tür zu öffnen?»

«Nee, das geht nicht, da ist ein Schloss vor.»

«Vielleicht gibt es ja irgendwo ein Fenster, wo man reinklettern kann.»

Wir gingen um die Hütte herum, kamen aber schnell zu dem Schluss, dass es kein Hereinkommen für uns gab. Statt Enttäuschung machte jedoch plötzlich Panik breit.

«Sagt mal: Was machen wir eigentlich, wenn die Gangster, denen das gehört, wiederkommen und uns hier sehen?», fragte David.

«Oh Gott, vielleicht stehen die schon irgendwo hinter den Bäumen und lauern uns auf!», sagte Imanuel.

Wir blickten uns um. Nirgends war jemand zu sehen. Doch wer sich hier auskannte, wer diese Hütte hier versteckt hatte, würde schon wissen, wie er sich unsichtbar machte.

«Aua!», rief Christopher.

«Was ist los?», fragte Imanuel.

«Irgendwas hat mir in den Hals gestochen. Scheiße, das waren bestimmt die, die schießen mit irgendwas auf uns!»

«Los, lasst uns lieber abhauen!»

Wir rannten aus der Senke heraus auf eine Lichtung. Dort erwischte es Imanuel.

«Aua!», rief er und fasste sich an den Hals.

«Scheiße, Mann, die haben uns umzingelt!», sagte Christopher.

Wir blieben stehen. Wenn es wirklich so war, wenn sie uns wirklich eingekreist hatten, half es nichts, weiterzurennen. So würden sie uns erst recht in die Hände bekommen. Doch je länger wir warteten, desto enge würde sich das Netz um uns ziehen. Wir mussten uns etwas einfallen lassen und zwar sofort.

Vinzent hatte die rettende Idee.

«Ach, wisst ihr», sagte er, «mein Vater ist bei der Polizei. Wenn die irgendwas machen, sind die dran!»

Er hatte das Wort ‹Polizei› so laut ausgesprochen, dass es wirklich jeder im Umkreis von dreißig Metern es hatte hören können. Auch die, die hinter den Bäumen auf uns lauerten. Tatsächlich schien es sie so in Angst und Schrecken zu versetzen, dass sie sich nicht mehr trauten, jemandem von uns in den Hals zu schießen.

Als wir sicher waren, dass wir sie verschwunden waren, gingen wir zügigen Schrittes weiter. Nicht, dass sie das Täuschungsmanöver am Ende doch noch durchschauten.

Wir gelangten auf ein Kornfeld. Hier machte Imanuel gleich den nächsten erschreckenden Fund.

«Ey, guckt mal, die Jacke!»

Er nahm sie auf und hielt sie vor sich.

«Ey, die sieht genauso aus wie die von dem Jungen, den sie neulich in den Pro7-Nachrichten gezeigt haben, der entführt worden ist», sagte einer.

Wir konnten dem jedoch nicht weiter nachgehen. In einer Viertelstunde war die Mittagspause zu Ende, das Abenteuer vorbei.

Wir versteckten die Jacke unter einer Hecke und gingen zurück zum Heim, froh, den Weg von hier zu kennen. Kurz bevor wir dort ankamen, musste David noch etwas Wichtiges sagen.

«Ey, ich glaube es ist besser, wenn ihr das mit dem Haus und auch das mit der Jacke nicht rumerzählt. Wenn die kleinen Knaben das hören, kriegen die nur Schiss!»

Wir versprachen einander, niemandem etwas zu erzählen. Das hätten wir aber gar nicht zu tun brauchen. Die Geschichte hatte sich längst rumgesprochen.

«Ey, ihr seid so bescheuert! Ihr denkt doch nicht ernsthaft, dass hier im Wald jemand rumläuft und Kinder entführt», sagte ein älterer Knabe, als er uns hereinkommen sah.

Sollte er doch glauben, was er wollte. Wir wussten, was wir gesehen und was Imanuel und Christopher gefühlt hatten.