Schwarzbrot

Perlen von Holstein Folge 39

September 1999

Es mochte mittlerweile vier Jahre her sein, dass meine zwei älteren Geschwister und ich mit dem Bund Deutscher Pfadfinder auf Amrum gewesen waren. Auf der Hinfahrt hatte ich ein Lied aufgeschnappt, von dem ich sofort ganz und gar hingerissen gewesen war. Bei jeder Gelegenheit hatte ich es gesungen, stets mit vorangestelltem «Antenne – das Radio». Mein großer Bruder hatte sich meist peinlich berührt weggedreht. Eine Betreuerin aber hätte mir stundenlang zuhören können. Sie war jung gewesen, eher eine Jugendliche als eine Erwachsene, und hatte immer ein offenes Ohr gehabt. Keine Eigenschaften, die in ihrem Berufsstand selbstverständlich waren.

Bei Wanderungen war sie häufig neben mir gegangen und hatte mich aufgefordert, das Lied zu singen. Ein Wunsch, den ich ihr nur zu gerne erfüllt hatte, der aber nicht ohne Folgen geblieben war.

«Jetzt hab ich ’nen Ohrwurm!», hatte sie einmal gesagt.

«Was ist ein Ohrwurm?», hatte ich gefragt.

«Das ist, wenn du in deinem Kopf immer wieder das gleiche Lied hörst.»

«Ach so. Ich dachte immer, dann haben die Träumer Musik angemacht.»

Die Träumer, das waren kleine Männchen, die in unserem Kopf vor Bildschirmen saßen und unsere Träume steuerten.

«Ja, so ist das ja auch!», hatte sie gesagt.

«Hä? Ich dachte man hat dann einen Ohrwurm.

«Ja, aber das mit den Träumen finde ich viel schöner!»

Man hatte also keinen Ohrwurm, die Träumer hatten Musik angemacht. Bei mir hatten sie das immer. Wohin ich auch ging, immer war da mindestens eine Stimme in meinem Kopf, die erbarmungslos sang. Meistens ritt sie den lieben langen Tag auf ein und demselben Melodiefetzen herum. Sie schien tatsächlich zu meinen, dass Wiederholungszeichen erst dann nicht mehr galten, wenn das vom Spieler abgesonderte Kondenswasser sie ausgewaschen hatte.

Das hatte aber auch einen Vorteil, denn dadurch lernte ich Melodien schnell. Auch beim Chor konnte ich zumindest die Töne eines Stücks nach spätestens drei Proben auswendig. Es gab nur wenige Ausnahmen. Ihnen allen war eines gemein: Sie stammten von Benjamin Britten.

Ich hatte natürlich kein Problem mehr damit, dass er Benjamin hieß. Auch wenn mir nicht entgangen war, dass sein Namensvetter mich seit unserem Wechsel aufs Gymnasium gerne mied, wenn coolere Leute da waren. Und A Hymn to the Virgin konnte ich längst in- und auswendig. Sich einmal deswegen hinsetzen und intelligent gucken zu müssen, hatte mir auch mehr als gereicht. Wie ich mittlerweile aber hatte feststellen, müssen war es noch sein einfachstes und vor allem wohlklingendstes Stück.

O Deus ego amo te war kein bisschen wohlklingend, eher ziemlich modern. Diese Art Stück also, die Frau Siebenkittels einst mit Schwarzbrot verglichen hatte.

«Ja, wenn ihr Schwarzbrot esst, schmeckt das ja erst ein bisschen herbe. Aber wenn ihr dann ganz lange drauf rumkaut, dann wird es irgendwann süß. Und genauso sind moderne Stücke.»

Für O Deus ego amo te jedoch hatte sie diesen Vergleich nicht erneut herangezogen. Sie war vielmehr gleich in die Vollen gegangen.

«Ach, ich habe hier ein neues Werk von Britten für euch, das ist so ein geiles Teil, ähm, das ist so ein schönes Stück!»

Meine Skepsis hätte größer nicht sein können. Es war hier schließlich von einem Werk von Benjamin Britten die Rede gewesen. Ich hatte Recht behalten sollen.

«O God, I love the, I love thee, I love thee!», jaulten wir.

Obwohl wir häufig immer wieder den gleichen Ton zu singen hatten, hatte alles seltsam schräg geklungen. Und bei dem sonderbaren Rhythmus hatten sich mir die Nackenhärchen gekräuselt.

«Oh Gott, ich hass’ dies’ Lied, ich hass’ dies’ Lied, ich hass’ dies’!», hatte ich in der Pause gesungen.

Frau Siebenkittel hatte das gehört.

«Ach, wirklich? Das wird dir schon noch gefallen, Lenni-Löwe!»

Ich war da weniger zuversichtlich gewesen. Unsere Chorleiterin jedoch hatte sich davon nicht entmutigen lassen. Wacker hatte sie weiter für das Stück geschwärmt.

«Ja, ich weiß ja nicht, ob es euch schon aufgefallen ist, aber diese eine Stelle hier, das klingt doch genauso wie Tishri. Es ist doch immer wieder ganz erstaunlich, dass alle modernen Komponisten bei Britten geklaut haben, findet ihr nicht?»

Entweder aber war ihre Begeisterung nach kurzer Zeit wieder abgeebbt oder aber sie hatte niemanden so recht damit anstecken können. Jedenfalls war das Stück nach einigen Wochen aus unserem Repertoire verschwunden.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Schräge Klänge sind kein Phänomen unserer Tage. Schon Carlo Gesualdo war ein Freund des betont Schrecklichen und der lebte Ende des sechzehnten Jahrhunderts. Seine Musik war seiner Zeit dermaßen voraus, dass der Musikwissenschaftler Charles Burney sie noch rund zweihundert Jahre später als «entsetzlich und widerlich» bezeichnete. Verglichen damit sind doch selbst die berüchtigten Drei Klavierstücke Schönbergs Werke eines Waisenknaben.

Man konnte nun meinen, Musik, die so modern wie die von Britten war, wäre Papa-Musik gewesen. Das war sie aber nicht, mein Vater konnte sie auch nicht leiden. Sie sei ihm nicht anspruchsvoll genug, meinte er. Worauf auch immer er dieses Urteil stützte.

Meine Mutter hingegen mochte den Benjamin. Sie begrüßte es, dass wir sein War Requiem singen würden, meinte gar, dass das eine große Ehre sei. Die insgesamt drei Aufführungen würden nämlich ein großes Ereignis sein.

Wie es sich für ein solches gehörte, sollten wir nicht alleine auf der Bühne stehen, sondern mit vielen anderen Menschen: mehreren Erwachsenenchören und einem Orchester. Unsere Rolle dabei würde die gleiche wie bei der Matthäus-Passion sein: die der Engel. Sollte heißen: Wir steuerten nur hin und wieder ein paar Töne bei, die Hauptlast trugen die Erwachsenen. Allerdings sollten wir anders als bei der Matthäus-Passion nicht bereits nach dem ersten Satz wieder gehen dürfen, wir mussten bis zum Ende bleiben. Das Werk war aber auch nicht vier, sondern lediglich anderthalb Stunden lang.

Ich musste zugeben, dass mich inhaltlich durchaus ansprach, was der Benjamin dort komponiert hatte. Im War Requiem ging es um den Krieg, genauer: den Zweiten Weltkrieg. Frau Siebenkittel hatte uns erzählt, dass die Uraufführung in einer Kirche stattgefunden hatte, die von deutschen Fliegerbomben im Krieg zerstört worden war. Damit sangen wir doch mal wirklich über etwas, das in meinen Interessenbereich fiel.

Im Religionsunterricht redeten wir seit den Ferien jede Woche über das KZ und über den Krieg. Unser Lehrer hatte uns Bilder von Menschen gezeigt, die für Experimente missbraucht worden waren. Man hatte sie in ein Flugzeug gesetzt, das so heftige Kunstflüge gemacht hatte, dass ihr Schädel aufgerissen und das Gehirn ausgetreten war. Ich meldete mich fast die ganze Stunde lang, begierig, mein Wissen beizusteuern. Wir hätten von mir aus auch in allen anderen Fächern darüber reden können. Der Zweite Weltkrieg war etwas, das nie an Faszination verlor. Er hatte dank Age of Empires sogar noch daran gewonnen – ich interessierte mich nun auch für die damals zum Einsatz gekommenen Waffen und deren Wirkung.

Die dazugehörige Musik aber klang, wie die Benjaminsche Musik eben klang. Wunderliche Variationen, fremde Töne, absonderliche Rhythmen. Es war beileibe nicht so schlimm wie O Deus ego amo te, dafür aber wesentlich umfangreicher. Ganze Proben lang beschäftigten wir uns mit nichts anderem. Das wäre alles halb so schlimm gewesen, hätten wir etwas gesungen, das erkennbar mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun hatte. Die uns anvertrauten lateinischen Verse jedoch sagten nach meiner Einschätzung das Übliche aus: Lobet den Herrn, preiset den Herrn, danket dem Herrn. Klassik ohne Gott war eben wie Volkslied ohne Frühling.

Erst eine von Frau Siebenkittel ausgeteilte Übersetzung brachte etwas Klarheit. Es gab auch englische Passagen, die nur eben nicht von uns gesungen wurden, und die handelten tatsächlich vom Krieg. Ich las einige von ihnen und musste feststellen: Was in dem Werk passierte, ließ einen irgendwie nachdenklich werden.

An einer Stelle, kurz vor Schluss, begegneten sich zwei Soldaten im Jenseits. Dies hatte man sich aber wohl anders als sonst so oft nicht wie einen schönen Garten oder Palast vorzustellen. Vielmehr waren da nur dichte Rauchschwaden, die alles verschlangen, selbst den Boden unter den Füßen. Die beiden Männer jedenfalls schienen einander nur schemenhaft wahrzunehmen.

«Ich bin der Feind, den du umgebracht hast, mein Freund», sagte der eine zu dem anderen, «Ich erkenne dich in dieser Finsternis, denn so hasserfüllt hast du mich angesehen gestern, als du erstochen und getötet hast. Ich wehrte mich, aber meine Hände waren widerwillig und kalt. Lass uns jetzt schlafen –»

Es musste schon ein merkwürdiges Gefühl sein, jemandem zu begegnen, den man überhaupt nicht kannte, mit dem man eigentlich nie etwas zu tun gehabt hatte, auf den man aber trotzdem ohne zu zögern losgegangen war. Wäre es in dieser Welt passiert, die beiden hätten wohl erneut aufeinander eingestochen. Im Jenseits aber geschah das nicht, sie beide waren tot, das war nicht mehr zu ändern. Es war für alles zu spät.

Eine Situation die schrille Klänge à la Britten durchaus rechtfertigte.