Zeitenwende
Perlen von Holstein Folge 44
Mai 2000
Fünf Jahre war es her, dass mein großer Bruder und ich im Urlaub immer das Kartenspiel Autos im Jahr 2000 gespielt hatten. Wir hatten gestaunt über Bilder von Fahrzeugen, die aussahen, als entstammten sie einem Science-Fiction-Film. Manche von ihnen schienen mehr für eine Fahrt auf dem Mond oder dem Mars gedacht zu sein als für eine auf der Straße. Doch warum sollte nicht auch das möglich sein im Jahr 2000? Schon die Jahreszahl verhieß doch Zukunft! Eigentlich müsste man da doch längst in fliegenden Autos unterwegs sein. Wie in Zurück in die Zukunft.
Das Jahr 2000 war gekommen und von den Autos aus dem Kartenspiel war lediglich der VW New Beetle Realität geworden. Kein Fahrzeug, das ich sonderlich schätzte. Auch sonst hatte sich im Vergleich zum Jahr 1999 so gut wie überhaupt nichts geändert. Dennoch war es schon toll, eine Zeitenwende miterleben zu dürfen. Auch wenn das viel beschworene Millennium ja eigentlich erst nächstes Jahr stattfinden würde.
2000 war für viele ein Grund, den Blick in die Zukunft zu richten. Manche wandten ihn jedoch auch in die Vergangenheit. So auch meine Mutter. Es war nämlich jetzt genau zweihundertfünfzig Jahre her, dass ihr allerliebster Lieblingskomponist Johann Sebastian Bach das Zeitliche gesegnet hatte. Darüber dürfte er sich, sofern er noch etwas davon mitbekommen hatte, nicht allzu sehr gefreut haben. Trotzdem war das für seine Anhängerschaft ein Grund zum Feiern.
Im Fernsehen zeigten sie eine Dokumentation, in der zwei Stunden lang allerlei Menschen davon erzählten, wie toll sie Johann Sebastian Bach doch fanden. Sogar Beethoven zählte zu ihnen.
«Nicht Bach, sondern Meer sollte er heißen!», soll der einmal gesagt haben.
Das war bemerkenswert, bedachte man, dass er den lieben Herrn Haydn nicht so sehr geschätzt haben soll. Auch das war schließlich ein bedeutender Komponist. Doch Bach war wohl ein Sonderfall. Den mochten wirklich alle.
Frau Siebenkittel natürlich ebenso. Seit einigen Wochen probten wir ein neues Werk von ihm: Sei Lob und Preis mit Ehren.
Eine Besonderheit, ja, etwas nie Dagewesenes dabei war, dass der Sopran den Alt singen sollte. Die Stimme der Intelligenten, wie unsere Chorleiterin zu betonen bekanntermaßen nicht müde wurde. In diesem Falle war das aber durchaus zutreffend. Die Soprane nämlich waren das, was wir Knaben in der Matthäus-Passion alle zusammen waren: Die Engel, die über allem drüber schwebten und immer mal wieder Teile einer Melodie einwarfen. Eine, die in jeder Hinsicht lahmarschig war. Cantus Firmus nannte man das laut Frau Siebenkittel. Für die eigentliche Musik sorgten die Unterstimmen. Deshalb sangen wir Soprane den Alt. Zumindest wir alteingesessenen in der zweiten Reihe. Die Neuen in der ersten sangen den Sopran, doch wen interessierten die schon?
Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Es ist keine Seltenheit, dass Dirigenten ein Stück nicht so aufführen, wie der Komponist sich das vorgestellt hat. Problematisch kann das dann werden, wenn der Meister noch am Leben ist. So kam es zum Bruch zwischen René Leibowitz und Arnold Schönberg, als dieser die Sprecherrolle in der Ode an Napoleon kurzerhand an seiner Ehefrau vergab. Schönberg nämlich konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Stimme «‹brummig› und hochnasig» genug für den Bass-Schlüssel gewesen ist, der in den Noten stand.
Das Werk selbst war eher wenig besonders: Die drei Unterstimmen sangen nacheinander, durcheinander und gegeneinander und machten sich einander das Leben schwer. Eine für ein schweres Stück doch recht typische Gestaltung. Einzige Abweichung war, dass nicht alle völlig verschiedene Töne hatten, sondern zu Beginn eines Abschnitts immer die Gleichen.
So ging alles seinen unspektakulären Gang, bis dann endlich die ebenso stets vorhandene Stelle kam, die ein wenig Dramatik versprühte. Warum das so war, ließ sich aus dem Text nicht schließen, der lautete: «dass uns Herz, Mut und Sinn ihm tröstlich sollen anhangen». Und damit waren wir beim nächsten Thema: Natürlich war auch dieses Stück nichts weiter als die hunderttausendste auf fünf Minuten gestreckte Aufforderung, den Herren zu preisen.
Kurzum: Sei Lob und Preis mit Ehren war für mich ein Werk wie jedes andere. Ich konnte beim besten Willen nicht erkennen, was alle Erwachsenenwelt so besonders fand an der Musik des Johann Sebastians. Hatte ich ja noch nie.
Dennoch wusste ich: Das Stück würde sich schon noch bei mir einprägen. Ganz sicher würde es mir dann auch ein wenig gefallen. Zumindest beim Singen. Hören würde ich es ganz bestimmt nie. Ich hörte keine Klassik mehr.
Das war jetzt seit bestimmt einem Jahr der Fall, wenn nicht schon länger, so genau konnte ich das nicht sagen. Es war mir eigentlich auch egal, ich wollte keine Klassik mehr hören. Die ersten Takte eines Werks waren ja noch meist noch recht unterhaltsam, dann aber wurde es schnell langweilig. Spätestens, wenn etwas Andante oder gar Adagio hieß. Und dann zog sich diese Art von Musik auch immer so endlos lange hin. Immer wieder ließ sie einen glauben, dass man es überstanden hatte, um dann erbarmungslos eine weitere Viertelstunde zu dauern.
Werke, die Text enthielten, waren selten besser. Zum einen, weil man den ohnehin meist kaum verstand, zum anderen, weil er oft so bescheuert war. «Singe, Seele, Gott zum Preise, der auf solche weise Weise alle Welt so herrlich schmückt!», hatte letztens eine Sopranistin bei irgendeiner Veranstaltung gesungen. Wir Knaben hätten uns am liebsten totgelacht. ‹Auf solche weise Weise.› So etwas Behämmertes musste einem wirklich erst einmal einfallen.
Dazu kam, dass Gleichaltrigen das mit der Klassik seit jeher nur schwer vermittelbar gewesen war. Von den meisten erntete man skeptische Blicke, wenn sie denn überhaupt wussten, wovon man redete. Ich wollte es nicht mehr, dieses elende Anderssein.
Was nicht bedeutete, dass ich Chart-Musik gehört hätte. Die fand ich noch immer genauso anstrengend wie früher. Deshalb hörte ich ziemlich wahllos irgendwas, meistens die Musik aus meinen Killerspielen. Sie gab einem ein Gefühl davon, wie es war, jemand zu sein, der Großes Vollbrachte. Jemand, den alle bewunderten.
Das war ich weder in der Realität, noch in den Killerspielen selbst. Obwohl ich nämlich viel spielte, war ich nicht besonders gut. Nur sehr selten kam ich über die ersten paar Levels hinaus. Und wann immer ich gegen meinen großen Bruder antrat, verlor ich haushoch. Da war es doch besser, sich dem hinzugeben, was nur Frau Musica einem bieten konnte.