Brücken

Perlen von Holstein Folge 45

Juli 2000

Die letzte Probe vor den Sommerferien war vorbei. Beschwingten Schrittes stiegen Christopher und ich die Treppe des U-Bahnhofs Kellinghusenstraße hinauf. Vor wenigen Monaten noch wäre es undenkbar gewesen, dass wir beide so friedlich nebeneinanderher gingen. Unser Verhältnis war immer angespannt gewesen, trotz des gemeinsamen Abenteuers in München. Vor kurzem aber hatte sich das geändert. Radikal geändert. Wir waren jetzt die besten Freunde, solange es um ein bestimmtes Thema ging.

Christopher redete deshalb auch nicht lange um den heißen Brei. Er sagte: «Und, wie weit bist du jetzt bei Pokémon

«Ich bin jetzt in dieser Stadt mit der Safari-Zone und habe mir da auch schon den Orden geholt. Ey, und als dann die Leiterin da mit ihrem Smogmog auf Level dreiundvierzig ankam, dachte ich ja noch: Scheiße, jetzt musst du wohl wieder stundenlang trainieren. Aber mein Glurak hat das voll plattgemacht, ey, obwohl das nur auf Level achtunddreißig ist!»

«Haha! Na ja, Glurak ist auch viel stärker als Smogmog, siehst du ja in der Serie auch immer. Der macht die da ja immer alle voll fertig.»

Irgendwann im Herbst letzten Jahres war ich in die Schule gekommen und alle Klassenkameraden hatten nur noch ein Thema gekannt: Pokémon. So war das immer gewesen, wenn irgendetwas urplötzlich in gewesen war. Die Frage, wie es eigentlich sein konnte, dass stets alle gleichzeitig davon erfuhren, hatte ich mir schon längst nicht mehr gestellt. Ich hatte vielmehr sogleich den üblichen Entschluss gefasst: Ich würde nichts kaufen und geduldig warten, bis dieses Pokémon wieder out war. Länger als drei Monate würde das schon nicht dauern. Länger als drei Monate dauerte das nie. Und bisher war es ja noch immer möglich gewesen, sich mit Klassenkameraden auch über normale Themen zu unterhalten. Killerspiele, zum Beispiel.

Drei Monate waren vergangen. Pokémon war nicht out geworden. Im Gegenteil: Nachdem es am Anfang nur die dazugehörige Zeichentrickserie gegeben hatte, waren bald Gameboy-Spiele, Sammelkarten, Sticker-Alben und noch allerlei weiteres Gedöns dazugekommen. Die Macher verstanden es wirklich vortrefflich, in jeden Lebensbereich eines normalen Elfjährigen einzudringen.

Als dann meine Klassenkameraden auch noch angefangen hatten, gemeinsam den Poké-Rap anzustimmen, hatte ich meinen Widerstand aufgegeben. Ich hatte wissen wollen, was an diesem Pokémon so toll war. Ich hatte mich am Nachmittag hingesetzt und mir eine Folge der Serie angesehen. Mit zunehmender Begeisterung angesehen.

Mensch, das war ja gar nicht wieder so ein hässliches, seelenloses Etwas wie die Tamagotchis, die Jo-Jos, die Gogos und was sonst noch so alles in den vergangenen Jahren einmal in gewesen war. Die Pokémon waren kleine Lebewesen, die immerzu den Namen der Spezies sagten, der sie angehörten. Das wirkte zunächst vielleicht etwas befremdlich, half einem aber, sich ebendiese Namen schnell merken zu können. Und wenn man sich einmal daran gewöhnt hatte, fand man es eigentlich sogar recht possierlich.

Viel interessanter als die Pokémon selbst war aber die Welt, in der sie lebten. Dort mussten sich die Kinder nicht jeden Tag zur Schule und jede Woche zum Chor schleppen. Dort durften sie durch die Wälder und Wüsten streifen, in denen hinter jedem Winkel das Abenteuer lauerte. Wo sie auch hinkamen, schlossen sie Freundschaften. Und wenn sie einmal längere Zeit auf keinen Menschen trafen, hatten sie noch immer ihre Pokémon. Diese hielten zu ihnen, egal, was passierte. Egal, wer sie waren.

So etwas konnte meinetwegen bis in alle Ewigkeiten in sein.

Ich hatte freilich noch immer nicht vorgehabt, irgendetwas zu kaufen. Schließlich hatte ich Internet und schließlich hatte ich meine Oma. Durch Ersteres kam ich an Dinge heran, an die sonst kein Finkenwerder herankam. Letztere musste man nur den Namen der momentanen Leidenschaft wissen lassen, schon wurde man mit Paketsendungen überhäuft. Meinem Bruder etwa hatte sie innerhalb von zwei Jahren glatt dreimal das gleiche Michael-Schumacher-Buch zukommen lassen. Das würde ihr mit Pokémon-Fanartikeln angesichts der Produktvielfalt wohl nicht so schnell passieren.

Und so hockten meine kleine Schwester und ich bald jedes Wochenende vor meinem Computer, lutschten Pokémon-Lollis und lauschten einer MP3-Fassung der Titelmelodie. Nicht, ohne begeistert mitzusingen, versteht sich: «Ich will der allerbeste sein, wie keiner vor mir war. Ganz allein fang’ ich sie mir, ich kenne die Gefahr –»

Es gab im Chor nicht wenige, die Pokémon nicht leiden konnten. Und damit meine ich nicht einmal nur die Älteren. Gleichaltrige und sogar Jüngere taten in Gesprächen darüber offen kund, wie, Zitat, scheiße sie sie doch fanden: die Serie und alles, was sie hervorgebracht hatte. Woran genau sie sich stießen, sagten sie dabei nie. Ich hatte den Verdacht, dass sie keine einzige Folge gesehen hatten und die Serie nur deshalb nicht mochten, weil sie eben in war.

Christopher hingegen war ein ausgewiesener Pokémon-Experte, das hörte ich an jedem seiner Worte. Wir saßen mittlerweile in der U-Bahn. Unser Gesprächsthema war nicht mehr das Gameboy-Spiel, sondern die Serie.

Christopher sagte: «Ey, ich hoffe so, dass bald mal neue Folgen kommen und die endlich aufhören, Scheiß-Wiederholungen zu zeigen. Die letzte Folge war mal ja echt sowas von geil! Das ist meine bisherige Lieblingsfolge, Alter!»

«Die, wo Pikachu und Mauzi so mit Handschellen aneinandergekettet waren und alleine über diese Insel mit den Riesenviechern laufen mussten? Ja, die war geil!»

«Nee, Mann, ich meine die, wo Glurak fast stirbt und dann am Ende endlich auf Ash hört. Willkommen im Dream-Team! hieß die doch.»

Das glaubte irgendwie jeder, aber das stimmte einfach nicht. Die letzte Folge vor den elendigen Wiederholungen war definitiv Mächtig Ärger! gewesen. Das sagte ich Christopher und gab ihm noch einmal den Inhalt der Folge, meiner bisherigen Lieblingsfolge, wieder.

«Ach so, die –», entgegnete er, «Naja, ich freu mich trotzdem so darauf, dass es endlich weitergeht. Das wird so geil, wenn Glurak auf Ash hört, ey! Damit kann er ja alle richtig fertigmachen! Der wird in der Orange-Liga sowas von gewinnen!»

Ich hätte zu gerne mit ihm spekuliert über das, was noch kommen würde. Leider musste Christopher jetzt aussteigen.

Wir gaben uns die Hand, dann entschwand Christopher.

«Tschüß, Mann!», sagte er im Hinausgehen.

Die Türen schlossen sich, der Zug setzte sich in Bewegung. Der folgende Streckenabschnitt führte durch einen Tunnel. An seinem Ende wartete die Fähre auf mich, mit der ich in die wohlverdienten Sommerferien fahren würde.