Personelle Veränderungen
Perlen von Holstein Folge 47
September 2000
Es war nie schön, wenn die Sommerferien vorbei waren. Von einem Tag auf den nächsten musste man wieder zur Schule und zur Probe. Eben noch war alles so weit entfernt erschienen, jetzt war es, als wäre man niemals weg gewesen. Was nicht bedeuten sollte, dass sich in der Zwischenzeit nichts verändert hätte. Es hatte sich in der Tat sogar eine ganze Menge geändert. Der Chor war nicht mehr derselbe. Und genau das war das Problem. Denn so ziemlich alles hatte sich zum Schlechten gewandelt: Jonas war ausgetreten. Vinzent war ausgetreten. Und Christopher war ein Anderer geworden.
Er kam neuerdings mit einem Digimon-Fußball zur Chorprobe. Einem Digimon-Fußball, das musste man sich einmal vorstellen. Diese Nachmacher-Sendung nicht nur zu sehen, sondern sich auch noch Fanartikel davon zu kaufen, ja, ging es noch? So etwas war ja wohl ganz klar Verrat.
Das Warten auf neue Pokémon-Folgen war auch weiterhin vergebens gewesen. Stattdessen waren sie in irgendeinem Werbeblock plötzlich mit Digimon angekommen. Ich war beinahe aus den Latschen gekippt. Digimon, was für ein schäbiger Name. Was für ein erbärmlicher Versuch, cool zu sein. Was für ein offensichtlicher, dummdreister Fall von Nachmachung.
Um diesbezüglich auch den letzten Zweifel zu beseitigen, hatte der Trailer mit den Worten geendet: «Pokémon ist der Wahn! Digimon ist der Mega-Wahn!» Da hatte mein Entschluss festgestanden: Nie würde ich auch nur eine einzige Folge dieser Billigheimer-TV-Sendung sehen. Soweit kam es ja noch, dass ich irgendwelche Nachmacher unterstützte.
Christopher war ganz offensichtlich anderer Ansicht. Von Pokémon wollte er nichts mehr wissen, stattdessen verfehlte dieser Judas einmal nur um ein Haar meinen Schädel mit seinem Digimon-Fußball.
Zu David brauchte ich gar nicht erst zu gehen, der würde zu Christopher halten. Und Imanuel war sowieso nie mehr als ein guter Bekannter gewesen. Es gab eigentlich nur noch einen, an den ich mich wenden konnte. Und das würde ich zu vermeiden wissen.
Philipp war vor etwa einem Jahr in den Hauptchor gekommen. Er war jung, außerordentlich jung. Selbst für die Verhältnisse eines Neuen. Wobei das vielleicht auch nur so wirkte. Mit solchen strohblonden Haaren hätte vermutlich jeder ausgesehen wie ein Wonneproppen. Klein aber war er auf jeden Fall.
Er war jedoch nicht einfach nur das. Er war auch das wohl einzige Kind auf der Welt, das nicht vor allem mit Gleichaltrigen befreundet sein wollte. Gezielt suchte er den Kontakt zu älteren. Und dabei schien zu gelten: Je älter, desto besser. Ich war eindeutig älter als er, vier Jahre insgesamt. Und so fiel ich ins Beuteschema.
Am U-Bahnhof Kellinghusenstraße war eine Zeit lang die Gratis-Zeitung 15 Uhr Aktuell verteilt worden. Die Artikel waren meist reichlich unspektakulär gewesen, dennoch hatte ich jede Woche zugelangt. Grund dafür war das Kreuzworträtsel auf der letzten Seite gewesen. Man hatte es problemlos bis zum Probenbeginn lösen können. Nach Möglichkeit ungestört lösen können.
Philipp jedoch war mir nur zu gerne dabei behilflich gewesen. In rascher Abfolge hatte er mir mögliche Begriffe genannt. Von vielen hatte ich noch gar nicht gewusst, dass sie überhaupt gesucht werden.
Heute jedoch galt seine Aufmerksamkeit nicht mir. Sie galt dem Plakat, das am Unterstand der Bushaltestelle Alsterchaussee nah bei der Jugendmusikschule hing. Die Probe war gerade vorbei und alle warteten nur darauf, dass endlich der 115er vorfuhr. Einige Knaben hatten einen Kreis gebildet. Ich stand nicht in ihm, Philipp schon.
Er sagte: «Haha, guckt mal: ‹Mit Radio Schleswig-Holstein ein Jahr umsonst Jeep fahren!› Und dann unten klein: ‹Die Benzinkosten müssen selbst getragen werden.› Toll! Und was ist daran dann bitteschön umsonst?»
Allerdings. Dasselbe war mir beim Anblick des Plakats auch durch den Kopf gegangen. Dasselbe wäre mir auch durch den Kopf gegangen, wenn ich noch in seinem Alter gewesen wäre. Mein großer Bruder und ich hatten uns damals zuweilen einen Spaß daraus gemacht, das Kleingedruckte in den Anzeigen seiner Computer Bild zu studieren.
Erschreckend, wie ähnlich dieser kleine Hosenscheißer mir doch war.
Im Bus fing er gar auch noch an, von Age of Empires zu sprechen.
«Die Kriegselefanten halten echt so scheiße viel aus, die haben genauso viele Lebenspunkte wie ein Bigdaddy!»
Das war wirklich ein interessantes Detail. Ein Bigdaddy nämlich war ein Cabriolet, in dem ein Mann mit einer Panzerfaust saß. Er war mit anderen Worten etwas, das in der Antike nichts zu suchen hatte. Man bestellte ihn sich, wenn man nicht fähig oder willens war, seine Schlachten auf ehrliche Weise zu gewinnen. Ein einziger genügte, um binnen Minuten das gesamte Römische Reich in Schutt und Asche zu legen.
Und ein Kriegselefant hatte also genauso viele Lebenspunkte. Das war mir in der Tat noch nicht aufgefallen. Aus gutem Grunde: In Zeiten, in denen ich noch gerne Lenni-Löwe geheißen hatte, hatte ich Elefanten gehasst. Sie waren das einzige Tier, dem ein Löwe nichts anhaben konnte, vor dem er fliehen musste. Außerdem waren sie hässlich und stanken. Wenn ich sie schon sah, wie sie sich mit ihren Rüsseln gegenseitig nassspritzen und wohl noch ernsthaft glaubten, dass das niedlich aussah. So etwas hätte ich doch nie und nimmer in meine Armee gelassen.
Ich hätte mich mit Philipp über Age of Empires unterhalten können. Meine letzte Partie lag zwar etliche Monate zurück, auch das beste Killerspiel wurde schließlich irgendwann mal langweilig. Doch vergessen hatte ich nichts. Ich wusste noch immer den Anschaffungspreis, den Angriffswert und die einzelnen Entwicklungsstufen fast aller Einheiten auswendig. Dies hätte ich Philipp sagen können.
Ich wollte aber nicht.