Erhebung

Perlen von Holstein Folge 48

Oktober 2000

Vor dem Sommerferien hatte Frau Siebenkittel mich zu einem kleinen Stimmtest geladen. Er hatte Beängstigendes zu Tage gefördert.

«Mensch, Lenni-Löwe, das ist aber doch ein bisschen ungewöhnlich, bei so ’nem hohen Ton schon in die Bruststimme zu wechseln, in deinem Alter. Da hast du echt ’nen kleinen Bruch. Da müssen wir wohl aufpassen, dass du nicht bald bei den Männern mitsingen musst. Oder möchtest du das?»

Mit meinen zwölf Lenzen im Anzug singen? Um Gottes Willen! Ich war doch nicht Otto-Thaddäus. Den hatte das Schicksal des Stimmbruchs tatsächlich vor Kurzem erreicht. Im Alter von dreizehn Jahren. Man hatte beinahe Mitleid mit ihm bekommen, wenn man ihn zwischen all den Erwachsenen sitzen sehen hatte.

Das hatte er dann auch nicht allzu lange. Seit drei Wochen fehlte jede Spur von ihm. Nicht ein Konzert hatte er als Mann mitgesungen. Dabei hätte man es ihm wahrscheinlich durchgehen lassen, wenn er einfach im roten Pullover dazu erschienen wäre. Christian machte das über zwei Jahre, nachdem er vor dem Chorwettbewerb in Stimmbruch gekommen war, schließlich ebenfalls noch immer. Und er würde es auch fünf Jahre, nachdem er vor dem Chorwettbewerb in Stimmbruch gekommen war, noch immer machen.

Von daher war es wohl ratsam, es ihm einfach gleichzutun, sollte ich wirklich in absehbarer Zeit in den Stimmbruch kommen. Bisher war ich das nicht und konnte so hoffnungsfroh in die Zukunft blicken.

Der Stimmtest war dennoch nicht umsonst gewesen. Wohl auf seiner Grundlage hatte Frau Siebenkittel entschieden, dass ich ab dieser Weihnachtssaison im Solochor mitsingen würde. Eine große Ehre und ein wahrgewordener Traum. Der Solochor war mein großes Ziel gewesen, als ich in den Hauptchor gekommen war. Natürlich hatte ich nicht ernsthaft damit gerechnet, es je zu erreichen und mir deshalb jeden Gedanken daran verboten. Auch jetzt kam Frau Siebenkittels Entscheidung für mich noch überraschend.

Und wäre der Chor für mich noch immer das Größte auf der Welt gewesen, sie hätte mich wunschlos glücklich gemacht.

Schließlich war ich nun noch lange kein Favorit, aber schon in der engeren Auswahl, im niederen Adel. Ein Baron, vielleicht sogar ein Graf. Die Bezeichnung Solochor nämlich war eigentlich irreführend. Er war nicht solistisch, sondern lediglich klein besetzt. Sopran und Alt stellten jeweils vier Knaben: Welche, die schon seit einigen Jahren dabei waren, welche, die schon seit vielen Jahren dabei waren, und Philipp. Der hatte eine ungewöhnlich tiefe und kräftige Stimme. Man konnte sie selbst durch die verschlossene Tür immer heraushören. Was zunächst verwunderlich schien, passte bei nüchterner Betrachtung recht gut zu diesem vorlauten Bengel.

Er war mit ein Grund dafür, dass ich eigentlich nur die halbe Stunde sah, die ich Dienstags jetzt wieder früher kommen musste.

Zwei Stücke sollte der Solochor an Weihnachten singen: Das erste war Lieb Nachtigall, wach auf. Anders als ich hatte es einen Abstieg hinter sich. Früher war es von den Favoriten gesungen worden, in St. Jacobi sogar mit instrumentaler Begleitung. Ich kannte es vom Hören her längst in- und auswendig. Es war ein ähnlicher Evergreen wie Tochter Zion. Das machte es mir nicht unbedingt sympathischer.

Mensch, konnte man denn nicht mal an Weihnachten von irgendwelchen Vöglein verschont bleiben? Die waren doch eigentlich den Volksliedern vorbehalten!

Doch wie es schien, war genau das die Absicht des Komponisten gewesen: Die Vorzüge des Volkslied mit denen des Weihnachtsliedes zu verbinden. Was lag da näher, als sowohl ein Vöglein, als auch das Kindlein im Text auftauchen zu lassen? Ein Vorwand dafür war gefunden, wie das Lied ja recht eindrucksvoll bewies. Von wegen: «Flieg her zum Krippelein! Flieg her, gefiedert Schwesterlein!» Das hatte doch eindeutig etwas von diesem bescheuerten Frosch-Lied, mit dem unsere Karius-und-Baktus-Hörspielkassette ihrerzeit aufgefüllt worden war. Um irgendwie einen Bezug zur Geschichte herzustellen, waren dem Frosch in der letzten Strophe Karius und Baktus ins Maul gehüpft. Dort hatten sie allerdings keine Zähne zum Hacken und Klopfen vorgefunden. So waren sie unverrichteter Dinge von dannen gezogen. Welch ein Glück für den Frosch.

Weil ich Lieb Nachtigall, wach auf vom Hören her in- und auswendig kannte, wusste ich um seinen tückischen Refrain. Der ging nach jeder Strophe anders. Mal hieß es, «dem süßen Jesulein», dann «dem zarten Jesulein», dann wiederum «dem lieben Jesulein». Die Reihenfolge war willkürlich und nicht aus dem Strophenverlauf zu erschließen. So kam es öfter einmal vor, dass einer die falsche Pointe jodelte.

Ich gelangte dadurch schnell zu der Erkenntnis, dass Frau Siebenkittel sich gegenüber ihren Elite-Sängern nur dann zurückhielt, wenn das gemeine Knabenvolk in der Nähe war.

Das zweite Stück hieß Zu Bethlehem geboren. Wir sangen es dieses Jahr zum ersten Mal. Keiner kannte es. Keiner, außer Frau Siebenkittel.

«Ihr habt ja sicher gesehen, dass die Noten von Zu Bethlehem geboren handgeschrieben sind und das hat folgenden Grund: Der Komponist dieses Stückes, der Dieter Schmeel, das ist mein Mentor und der hat es vor ganz vielen Jahren einmal für mich geschrieben. Der war schon damals ziemlich alt und ist natürlich noch älter geworden und dem geht es nicht so gut. Er weiß, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Und als ich ihn neulich wieder getroffen habe, hat er mich gebeten, das Stück mit euch aufzuführen. Er wird zwar selbst nicht dabei sein können, aber er würde sich doch ganz doll freuen, wenn wir das für ihn machen.»

Man konnte nun meinen, bei dem Stück handelte es sich um einen kleinen Domhardt. Das tat es aber nicht. Die erste Strophe war sogar, man konnte es nicht anders sagen, irgendwie fetzig. Die Melodie war eingängig, der Rhythmus schnell. Es gab in den Unterstimmen den einen oder anderen schrägen Ton, da konnte man als Sopran aber mühelos drüber hinwegsingen.

Die zweite Strophe ging in eine ganz andere Richtung. Ich hatte beim Singen immer einen Pianisten vor Augen, wie er mit gefühlsseligem Gesichtsausdruck eine Liebesballade schmachtete. Es mochte dem Text geschuldet sein, der irgendwie ulkig und auch ein wenig ekelerregend war: «In seine Lieb versenken will ich mich ganz hinab, mein Herz will ich ihm schenken und alles, was ich hab.» Man konnte sich schon fragen, ob das Jesuskind es wirklich wünschte, derart heftig von einem fremden Erwachsenen geliebt zu werden. Ich für meinen Teil würde angewidert zurückweichen.

Strophe Nummer drei war dann wirklich mal Schwarzbrot, wenn auch verglichen mit dem Domhardt ein eher mildes. Unsere Sopran-Linie enthielt so einige schräge Töne. Am schlimmsten war es bei dem Wort «Schmerzen», was ja doch irgendwie passte. Wenn man sich dran gewöhnt hatte, gefiel es einem sogar. Es war so ehrlich ergriffen. Dennoch freute ich mich immer auf die vierte Strophe. Die bestand wieder aus der gleichen fetzigen Melodie wie die erste. So, als wäre nichts gewesen.