Schimmliges Engelsbrot
Perlen von Holstein Folge 51
Januar 2001
Es war bisher zum Glück selten vorgekommen, dass ich ein Stück kein bisschen leiden konnte. Und wenn, dann hatten wir es meist nicht lange gesungen. Sei es, weil wir es nur für irgendeine besondere Veranstaltung gebraucht hatten, sei es, weil es sich eben nicht bewährt hatte. Unrühmliche Ausnahme war Drei König’ wandern aus Morgenland gewesen, doch sangen wir das ja nur an Weihnachten, wo es in der sonstigen Farbe, Freude und Festlichkeit ziemlich unterging.
Vor einem Jahr aber hatte sich ein Werk in unser Repertoire eingenistet, das mir die Schuhe auszog: Panis Angelicus von César Franck. Es weigerte sich hartnäckig, zu gehen. Dabei konnten Worte das Ausmaß der Abscheulichkeit dieses Machwerks nicht beschreiben. Zumindest keine des regulären Sprachgebrauchs. Der achtjährige Lenni-Löwe hingegen hätte eines gekannt: gierig.
Wenn ich früher gierig gesagt hatte, hatte ich damit eigentlich nicht gierig gemeint. Ich hatte das Gefühl beschreiben wollen, das anderer Menschen Gier bei mir ausgelöst hatte. Dieses war jedoch auch durch andere Formen von Selbstsucht, Anmaßung und Niedertracht verursacht worden. So hatte das Wort eine Bedeutungserweiterung erfahren. Gierig waren so etwa auch das gelbe und das hellblaue Auto in dem Killerspiel Grand Prix Circuit gewesen. Immerzu waren sie vor einem gewesen und hatten einen einfach nicht vorbeigelassen. Sie waren einem sogar absichtlich immer wieder in den Weg gefahren, damit man ihnen ins Heck raste und das Rennen verlor. Gieriger ging es ja wohl gar nicht mehr!
Möglicherweise hatte ich das Wort auch geschätzt, weil man ihm seine Bedeutung so wunderbar anhörte. Jedenfalls passte es zu Panis Angelicus wie die Faust aufs Auge. Alle seine Bestandteile klangen gierig. Die Klavier- oder Orgelbegleitung klang gierig, die Solo-Strophe klang gierig, die Chor-Strophe klang gierig, ja, sogar der Text klang gierig.
Letzteres war schon eine beachtenswerte Leistung. Die Worte waren ja schließlich lateinisch, für mich also nur eine Aneinanderreihung von Silben. Selbst wenn man mir den Text übersetzte, war schwer zu sagen, ob die Sprache bildhaft oder sachlich, voller Farbe oder ein einziges Grau war. Dennoch, dieses «Dat panis coelicus figuris terminum» klang so atemberaubend bescheuert, es war kaum zum aushalten. Spätestens bei dem Wort figuris war ich mir nicht einmal mehr sicher, ob das wirklich Latein oder eine Parodie darauf war.
Daran traf den Text vielleicht aber gar keine Schuld. Die Melodie nämlich, mit der er unterlegt war, hätte wohl sogar die beklemmenden Schilderungen des Domhardts entstellt. Am Ende des Stücks sangen wir mehrmals pauper. Laut Frau Siebenkittel hieß das arm. Arm im Sinne von besitzlos. Es war gut, dass sie das sagte, denn es war das letzte, was ich hinter diesen selbstgefällig ergriffenen Tönen vermutet hätte.
Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Vernichtende Urteile über Kompositionen gibt es so einige, eines eigenständige Kunstform bilden sie jedoch nur bei Eduard Hanslick. Über Tschaikowskys Violinkonzert schrieb er, es bringe uns «zum erstenmal auf die schauerliche Idee, ob es nicht auch Musikstücke geben könne, die man stinken hört.»
Ich überlegte, wie lange ich dieses Werk voraussichtlich würde ertragen müssen. Einen Großteil unseres jetzigen Repertoires hatten wir schon in Israel gesungen, manches auch schon lange davor. Vom Weihnachtsprogramm einmal ganz zu schweigen. Dagegen war überhaupt nichts einzuwenden, wenn ein Stück immer wieder schön war. Im Falle von Panis Angelicus aber konnte man sich schon fragen, ob Veränderungen wirklich per se schlecht waren.