Knaben singen nebst Kindern
Perlen von Holstein Folge 53
April 2001
Auf der Klarinette machte ich gute Fortschritte. Fast jede Woche erhielt ich von meinem Lehrer einen Stempel mit Urteilen wie «Super!» oder «Das war ganz toll!». Wie sollte es auch anders sein, im Grunde war das Instrument ja eine große Flöte. Man musste nur kräftiger hineinblasen und – mein Lehrer wurde nicht müde, das zu betonen – den Mund zu einem Kissen formen. Letzteres gelang mir zwar nie länger als fünf Minuten, dennoch war er mit mir zufrieden.
Heute aber hatte er tatsächlich einmal etwas zu kritisieren.
«Ja, also, Lennart, die Töne klappen schon ganz wunderbar, das hast du wirklich ganz toll geübt. Aber da fehlt mir doch ein bisschen was, das ist irgendwie noch keine richtige Musik, wie du das spielst. Wie heißt denn das Stück?»
«Remember.»
«Ja, und was heißt das auf Deutsch?»
«Sich an etwas erinnern.»
«Ja, genau! Aber worauf ich hinaus will, ist, was meint der Komponist, also Heinz Both, damit. Will der damit sagen: Denk dran, dir für morgen ein Brötchen einzupacken, oder was?»
Ich lachte.
«Nein», fuhr mein Klarinettenlehrer fort, «das meint der natürlich nicht. ‹Remember› heißt hier so viel wie: ‹Hach, weißt du noch früher –›»
«‹Hach, weißt du noch früher, wie wir in der Schule die Lehrer fertiggemacht haben.›»
«Ja, genau: ‹Hach, weißt du noch früher, wie wir zur Schule gegangen sind›. Und genauso möchte ich, dass du das jetzt spielst. Als würdest du das sagen wollen.»
Wie bitte? Ich sollte spielen, als würde ich sagen wollen: ‹Hach, weißt du noch früher, wie wir zur Schule gegangen sind›? Warum sollte ich nicht gleich so spielen, als würde ich sagen wollen: ‹Veronika, der Lenz ist da›? In Erinnerungen schwelgen, sich nach vergangenen Zeiten zurücksehnen, sowas taten doch nur alte Leute. Und das aus vollkommen unnachvollziehbaren Gründen. Was bitte war an ihnen so toll gewesen, den Zeiten der Bombennächte, Lebensmittelknappheit und Computerlosigkeit? Und wie man sich wünschen konnte, wieder jünger zu sein, konnte ich nun beim besten Willen nicht nachvollziehen. Älter werden war doch großartig. Man durfte mehr, man hatte vor weniger Angst, man konnte auf eine stetig größer werdende Zahl Kleinerer herabblicken. Vor allem aber rückte das verdiente Ende einer Institution namens Schule immer näher.
Ich gab mir trotzdem alle Mühe. Schließlich wollte ich einen schönen Stempel bekommen. Mein Lehrer aber war nicht zufrieden. Er gab mir das Stück zur nächsten Woche noch einmal auf.
Am Abend saß ich vor meinem Computer und frönte dem Killerspiel Jazz Jackrabbit 2. Es war mit seiner farbenfrohen Grafik sicher kein Spiel, mit dem man angeben konnte. Seine Altersfreigabe war sogar etwas, das man besser geheim hielt. Dennoch liebte ich es. Es war so herrlich unbeschwert.
Wie ich mich so durch die Gassen einer anonymen italienischen Stadt ballerte, hörte ich plötzlich eine Melodie, die mich alle Kampfeslaune vergessen ließ.
Auf einmal war es wieder da, das Gefühl, mit Benjamin vor dem Schulgebäude zu stehen und über Age of Empires zu reden. Wir hatten keine Sorgen gekannt, außer der, wie die nächste Schlacht zu gewinnen war. Das Gymnasium war damals noch unser beider große Zukunft gewesen.
Wie lange war das jetzt her? Zwei Jahre? Meine Güte.
Ich drückte auf Pause und lauschte der Melodie. Sie weckte weitere Erinnerungen. Erlebnisse, die drei, fünf, zehn Jahre her waren, traten in mein Bewusstsein und weckten in mir die Sehnsucht, wieder klein zu sein.
Wir sollten dieses Jahr bei Kinder singen für Kinder mitwirken. Laut meiner Mutter auf Bitten von Herrn Sobirey, dem Chef der Jugendmusikschule.
Kinder singen für Kinder war eine alljährlich im Michel stattfindende Benefizveranstaltung, die hielt, was der Name versprach: Sage und schreibe zehn Kinderchöre traten in einem Wettbewerb gegeneinander an. Es wurden keine Referenzen verlangt und auch kein Casting veranstaltet. Mitmachen konnte jeder, der sich dazu bereit fühlte.
Wo die Veranstaltung niveautechnisch einzuordnen war, verriet ihm das gemeinsame Lied. «Alle Kinder dieser Erde sind sich ähnlich überall, hoch im Norden tief im Süden, auf dem ganzen Erdenball», lautete dessen Refrain. Auf dem Notenblatt war eine Erdkugel abgebildet. Darauf standen Kinder verschiedener Kulturkreise, die sich gegenseitig bei der Hand nahmen. Es war mit anderen Worten ein Lied, das vorzüglich auf eine meiner alten Kinderkassetten gepasst hätte. Ich war mir allerdings sicher, dass der Text in seiner schlicht perversen Treuherzigkeit schon damals mein Missfallen erregt hätte. Wer ihn verfasst hatte, war wohl als Erwachsener auf die Welt gekommen und hatte nie eine Gruppe von Kindern erlebt, die sich unbeobachtet wähnt.
Doch ist bei einer Veranstaltung, bei der Geld für totkranke Kinder gesammelt wird, das Niveau wohl zweitrangig. Es alleine war auch nicht der Grund, dass meine Mutter Herrn Sobireys Bitte als Beleidigung unseres Chors empfand. Entscheidend war für sie, dass wir tatsächlich am Wettbewerb teilnehmen sollten, während die Hamburger Alsterspatzen außer Konkurrenz sangen.
Sollten sie doch. Mir war das reichlich egal. Die Leute würden auch so merken, dass wir hier eigentlich nicht hingehörten. Auf ging es in den ungleichen Kampf.
Am Eingang des Michels lief ich an einigen Jungs aus einem der anderen Chöre vorbei. Ich schätzte ihr Alter auf sieben oder acht Jahre. Ihre Chorkleidung war als eher rudimentär zu bezeichnen.
«Ey, wieso müssen wir eigentlich bei einem Wettbewerb mitmachen?», sagte der eine zu dem anderen, «Es weiß doch jeder, dass wir die Champs sind!»
«Genau, Mann. Die können uns doch gleich den Pokal nach Hause schicken.»
‹Na, dass ihr da mal nicht irrt –›, dachte ich bei mir. Diese kleinen Hosenscheißer hatten wirklich keine Ahnung. Nun ja, nicht mehr lange und die Realität hätte sie eingeholt. Ob die dann wohl so heulen würden, wie ich damals in Regensburg?
Wohl eher nicht. Seit diesem Jahr war Kinder singen für Kinder nämlich ein Wettbewerb ohne Verlierer. Jeder Chor bekam den gleichen Pokal und die gleiche Urkunde.
Das war auch besser so, denn die beiden Bengels am Eingang hatten mit ihren acht Jahren noch über dem Altersdurchschnitt gelegen. Die Igelkinder, das erste Ensemble des Nachmittags, befanden sich weit darunter.
Ich traute meinen Augen nicht: Dort unten im Altarraum des Michels versammelte sich eine Bande Drei- bis Vierjähriger. Ohne viel Federlesens begannen sie, ihre Erkennungsmelodie zu schrillen.
Ein Lied, das ihnen fürwahr auf den Leib komponiert worden war. Es bot ihnen ausreichend Gelegenheit zu zeigen, wie breit sie das I singen konnten. Frau Siebenkittel hätte uns an Ort und Stelle erdolcht, wenn wir das auch nur versucht hätten. Das Hauptproblem war aber natürlich nicht ihre Aussprache, sondern ihr Klang. «Das geht durch Mark und Pfennig», hätte Opa Max jetzt wohl gesagt.
Die Kinder der nachfolgenden Ensembles waren zwar älter, technisch aber kaum versierter. Es war wirklich, als wären wir in der Chor-Gala von Kinderquatsch mit Michael gelandet. Die Alsterspatzen waren eine rühmliche Ausnahme, aber die sangen ja wie gesagt außer Konkurrenz.
Endlich waren wir an der Reihe. Und damit nahm mein Martyrium seinen Lauf. Wir hatten uns in einem Zimmer neben dem Altarraum versammelt, als ein Knabe etwas bemerkte.
«Boah, Lenni-Löwe, du stinkst ja voll nach Fisch!»
Ein anderer, der das hörte, roch es jetzt auch.
«Genau! Puh, ist das eklig!», sagte er und hielt sich die Nase zu, «Benutzt du denn gar kein Deo, Lenni-Löwe?»
«Bestimmt irgendein Fisch-Deo!»
Es war vollkommen ausgeschlossen, dass ich stank. Ich hatte erst vor drei Stunden gebadet. Wie vor jedem Konzert. Ein Deo benutzte ich allerdings tatsächlich nicht, wohlwissend, dass ich in einem Alter war, in dem man damit anfing. Bei meinem großen Bruder nämlich war das damals so gewesen. Eines Morgens hatte er nicht mehr aus dem Haus gehen wollen, ohne zuvor stundenlang das Bad blockiert zu haben. So war es geblieben. Erst duschte er stundenlang, dann sprühte er sich mit Axe ein, dann gelte er sich die Stirnhaare nach oben. Seine Begründung: Normale Leute, also die Jungs in seiner Klasse, machten das so.
Vor rund eineinhalb Jahren dann hatte er den Einfall gehabt, dass es mir sicher auch gefallen würde, ein bisschen normal zu sein. Ich müsste es nur einmal ausprobieren. Nach kurzer Überzeugungsarbeit war er mit mir ins Bad gegangen. Dort hatte er meine Haare in Form gebracht und eine beachtliche Ladung Gel hineingeträufelt. Sie waren unbeeindruckt in ihre Ausgangsposition zurückgekehrt. Er hatte es nochmals versucht, mehr Gel benutzt, es hatte nichts geholfen. Irgendwann hatten wir es beide eingesehen: Meine Haare wollten nicht normal sein.
Vom Deo hatte ich nach diesem Erlebnis gleich die Finger gelassen. Ich empfand seinen Geruch sowieso ziemlich unangenehm und verstand gar nicht, wie man sich freiwillig damit einsprühen konnte.
Eine Ansicht, für die ich heute teuer bezahlte.
Die beiden Knaben nämlich gingen nicht einfach so weit wie möglich von mir weg. Sie riefen andere Knaben herbei, damit auch diese sich von meinem Fischgeruch überzeugen konnten. Sie kamen in Scharen und bildeten einen Kreis um mich.
«Igitt, Lenni-Löwe!», sagte einer. Er wedelte dabei mit der Hand meinen Geruch von seiner Nase weg.
Und hätten wir jetzt nicht einziehen müssen, es hätte wohl einer mit einem Zweig nach mir gestoßen.
In der nächsten Woche brauchte ich meinem Klarinettenlehrer Remember nur einmal vorzuspielen.
«Mensch, Lennart, das war ja schon fast aufführungsreif!»
Ich erhielt ein Schulterklopfen und einen Stempel mit dem Urteil «Das war super!». Die höchste Auszeichnung.