Requiem für einen Saiyajin
Perlen von Holstein Folge 55
September 2001
Es war Sonnabendnachmittag. Das war eigentlich ein Grund zu Freude. Der Sonnabend war mein liebster Tag. Ich fand ihn viel besser als diesen blöden Sonntag. Man hatte eine ausgeschlafene Nacht vor und eine ausgeschlafene Nacht hinter sich und der Montag war – zumindest theoretisch – noch ganz weit weg. Für einen Augenblick schien eine kleine Insel namens Wochenende ein gewaltiger Kontinent zu sein.
Doch war es nun einmal ein Sonnabendnachmittag in Maschen und da galten andere Regeln. Da war Sonnabend der schlimmste Tag. Er war der einzige, an dem wir von morgens bis abends probten. Man konnte nichts weiter tun, als regelmäßig auf die Uhr zu blicken und sich über die bereits vergangenen Stunden zu freuen. Jede brachte einem den Abend näher. Und war der Sonnabend überstanden, war das ganze Chorwochenende überstanden. Sonntags probten wir meist nicht mehr viel. Zimmer mussten geräumt und die Besitzer herrenloser Kleidungsstücke ermittelt werden. Danach durfte man nach Hause und das kümmerliche bisschen Rest vom Wochenende genießen, bevor es am nächsten Tag wieder zur Schule ging.
Das war freilich nichts, auf das man sich wirklich freuen konnte. Deshalb sprach ich seit geraumer Zeit nur noch von der Zwölftagewoche, wenn es mal wieder nach Maschen ging. Genau das war es nämlich, hintereinander fünf Tage Schule, zwei Tage Chorwochenende und wieder fünf Tage Schule zu haben.
Immerhin probten wir Nun ist alles überwunden. Ein Stück, das ich sehr schätzte, gerade weil es mich immer irgendwie betroffen machte. Es handelte vom Tod, war aber im Gegensatz zu Unser Leben ist ein Schatten eindeutig traurig. Wobei, traurig war der falsche Begriff. Eigentlich war es eher, nun ja, bittersüß.
‹Nun ist alles überwunden, meine Liebsten, weinet nicht!›, begann es. Wer da sprach, war also frisch im Jenseits angekommen. Seine Angehörigen brauchten sich aber keine Sorgen um ihn zu machen, denn er fühlte dort bestens aufgehoben: ‹Nunmehr spür› ich keine Mängel, Jesus ist mein Schatz, mein Glanz. Meine Führer sind die Engel, Ewigkeit mein Hochzeitskranz.›
Ich fragte mich, was ich unter Mängeln zu verstehen hatte. Eine kaputte Stuhllehne wahrscheinlich nicht, auch wenn so etwas gemeinhin als Mangel aufgefasst wurde. Andererseits ging es hier ja nicht um die Mängel selbst, sondern darum, dass wer auch immer sich nicht mehr an ihnen ärgern musste. Er war jetzt in einer anderen Welt. Einer, in der es solcherlei nicht gab. Man konnte ihn regelrecht vor sich sehen, wie er durch die nebligen Highlands des Jenseits schritt. Es hatte ein wenig etwas von dem Fantasy-Killerspiel The Legend of Shaismonthos.
Das galt auch für die wiederholt angesprochenen Liebsten, die er im Diesseits gehabt hatte. Sie schienen wirklich von einer in der heutigen Zeit nicht mehr antreffbaren Sorte gewesen zu sein. Jene, die einem beim Kampf gegen den Fürsten der Finsternis und seine Legionen immer zur Seite stand. In der dritten und letzten Strophe hieß es ja ausdrücklich: ‹Streitet so, wie ich gestritten, folgt mir nach mit Herzensschritten!› Worte, die mir vor Augen führten, wie schön es doch gewesen wäre, dreihundert Jahre früher geboren worden zu sein.
Zugleich war gerade diese dritte Strophe es, die in mir die meiste Betroffenheit auslöste. ‹Streitet so, wie ich gestritten, folgt mir nach mit Herzensschritten! Lebet wohl, es ist vollbracht!›, ging ihre zweite Hälfte in Gänze. Darauf folgte der Refrain. ‹Welt, Ade, Welt, Ade›, schrien wir im verzweifelten Forte, um uns dann mit einem bedächtigen ‹zu guter Nacht› in unser Schicksal zu fügen.
Am eindrucksvollsten daran war sicher dieses: ‹Es ist vollbracht!›. Es klang wie die bittere Erkenntnis eines Menschen, der lange und tapfer gekämpft hatte, am Ende aber gefallen war. So wie neulich bei Dragonball Z.
Dragonball Z war ein Phänomen. Es lief kaum eine Woche und hatte schon allen anderen Animes den Rang abgelaufen. Pokémon sah außer mir kein Mensch mehr, Digimon und Monster Rancher erst recht nicht. Auch Christopher hatte ich neulich voller Inbrunst das Titellied singen hören. Das war auf sein Ansehen bei mir allerdings ohne Auswirkungen geblieben. Als hätte ich von diesem Menschen zu erwarten, dass er irgendwelche Ahnung von der Serie hatte! Sie war nämlich hochkompliziert. Zu kompliziert für jemanden, der immer noch mit seinem Digimon-Ball zur Probe kam.
Konnte das Ding nicht eigentlich mal endlich auf die Straße rollen und von einem großen Brummi überfahren werden?
Wie dem auch sei. Dragonball Z lief, wie gesagt, kaum eine Woche. Trotzdem hatte es bereits den ersten Toten gegeben: Den Saiyajin Radditz. Die Höllenspirale, ein mächtiger Energiestrahl, hatte ihn durchbohrt. Zu verantworten hatte dies Teufelssohn Piccolo, der die Höllenspirale durch Konzentration all seiner Körperkraft erzeugt hatte. Dies hatte einige Zeit in Anspruch genommen. Radditz hatte sie genutzt, um sein Leben zu flehen. Es hatte ihm nichts genützt. ‹Das darf nicht wahr sein!›, hatte er im Augenblick des Todes geschrien.
Ich hörte diese Worte in mir widerhallen.
Radditz war kein besonders Netter gewesen. Er war auf die Erde gekommen, um zu überprüfen, wie weit Serienheld Son Goku mit seiner Aufgabe vorangeschritten war. Diese Aufgabe hatte darin bestanden, alle Erdenbewohner, sprich: Menschen, zu töten. Davon hatte Son Goku aber nicht einmal gewusst, weshalb Radditz das nun hatte übernehmen wollen. Er hatte zudem Maßnahmen ergriffen, die Son Goku zwingen sollten, dabei mitzuwirken. Man hatte ihn ohne Zweifel aufhalten müssen.
Aber ihn gleich umbringen?
Das war ein Gedanke, der mir nicht so wirklich entsprach. Beim Killerspiel Rise of the Triad taten meine Klassenkameraden und ich das laufend: Gegner niederschießen, die sich zu ergeben versuchten. Das galt als der größte Spaß.
Andererseits: Doch, irgendwie entsprach mir dieser Gedanke schon. Ich hatte es noch nie gerne gesehen, wenn in Filmen und Büchern auf Schwächeren und Hilflosen herumgehackt wurde. Vor allem nicht, wenn dies durch unsere ach so liebenswürdigen Helden geschah. Und erst recht nicht, wenn ich das auch noch witzig finden sollte. Derjenige, den es traf, war ja schließlich ein ausgemachter Unsympath.
Genau das war nun in Dragonball Z der Fall. Ich war mir nicht sicher, ob ich es wirklich weitersehen mochte, wusste aber, dass ich keine andere Wahl hatte. Ich konnte in der Klasse doch nicht erzählen, dass ich eine Serie nicht sah, weil da Leute umgebracht wurden.
Die Proben an Nun ist alles überwunden zum stillen Gedenken nutzen aber, das konnte ich. So war das Stück mein Hymnus für den armen Radditz. Nur für ihn sang ich es heute. Ich tat das im vollen Bewusstsein, dass es überhaupt nicht zu ihm passte. Liebste hatte ein Bösewicht wie er ja keine.