Zwangsgemeinschaft
Perlen von Holstein Folge 57
November 2001
In der Jugendmusikschule war ich heute nicht der Erste. Mein kleiner Bruder Jannik hatte es sich bereits auf der Pythagoreischen Treppe bequem gemacht. Ich setzte mich neben ihn. Nicht, ohne den gebührenden Abstand einzuhalten, versteht sich. Jene drei Meter, aus denen Vorüberziehende sicher schließen sollten: Wir zwei kannten uns nicht.
Das Übliche.
Meine Mutter legte bekanntermaßen viel Enthusiasmus an den Tag, wenn es darum ging, uns unserer freien Nachmittage zu berauben. Sie war dabei jedoch nicht kreativer als unbedingt notwendig. Was sich bei einem von uns bewährt hatte, wurde auf alle jüngeren Geschwister ausgeweitet. Meine große Schwester hatte Blockflöte lernen müssen, also hatten wir das alle. Ich ging zum Klavierunterricht, also tat meine kleine Schwester das auch. Ich war Mitglied des Neuen Knabenchors Hamburg, also konnte Jannik das doch auch sein. Vollkommen ungeachtet der Tatsache, dass er sich nie auch nur im Mindesten für klassische Musik interessiert hatte.
Meiner Mutter war es aber auch eigentlich um etwas ganz Anderes gegangen: Jannik und ich sollten endlich unsere Fehde beilegen. Die bestimmte unser beider, unser aller Familienleben schon, seitdem er sprechen gelernt hatte. Und in der Tat: Dank unserer gemeinsamen Mitgliedschaft im Knabenchor hatten wir schon einmal miteinander gespielt, ohne uns nach drei Minuten in den Haaren gelegen zu haben.
Damals hatte die Probe noch in der Handelsschule Kellinghusenstraße stattgefunden. Meine Mutter ihn zum Vorchor bringen wollen und mich mitgeschleppt.
Vor dem Schulgebäude waren wir von einer Journalistin der Hamburger Morgenpost angesprochen worden. Sie war auf der Suche nach Kindern gewesen, die bereit waren, für ein Foto zu posieren. Das waren wir nur zu gerne gewesen. Um in die Zeitung zu kommen, tat man schließlich alles. Man begrub selbst Kriegsbeile, die man vor langer Zeit demonstrativ in die Mülltonne geworfen hatte.
Wir folgten der Dame also auf einen menschenleeren Hof, reichten uns die Hände und drehten uns im Kreis. Um in die Zeitung zu kommen, tat man schließlich alles. Selbst Dinge, die einem in jeder anderen Situation viel zu peinlich gewesen wären.
Unsere Selbstverleugnung sollte ich gelohnt haben. Am nächsten Tag hatte das Foto großflächig einen Artikel zu dem menschenleeren Hof geschmückt. Die Bildunterschrift: «Noch spielen hier Kinder. Was mit dem Platz in Zukunft geschehen soll, ist weiterhin ungewiss.»
Zusammengeschweißt hatte uns das gemeinsame Erlebnis freilich nicht.
Auch heute saßen wir nebeneinander und schwiegen. Schwiegen, weil wir uns diesem Ort nicht schlagen konnten.
Dann, wie aus heiterem Himmel, durchquerten zwei Vollblutpädagogen das Foyer, ein Lied auf den Lippen.
Die Kleinkinder, die sie mit sich schleppten, waren davon nur wenig angetan. Jannik und ich umso mehr. Ich äffte den Gesang nach, Jannik kicherte.
Durch ein Fenster sah ich, wie sich Philipp näherte. Sofort stellte ich das Singen ein. Das fehlte mir noch, dass der mich hörte und wieder mal meinte, einen Anknüpfungspunkt gefunden zu haben. Jannik sah mich einige Sekunden verwundert an, bemerkte dann aber den Grund für mein plötzliches Schweigen. Ein schadenfrohes Grinsen machte sich auf seinem Gesicht rein.
Philipp kam herein, nahm neben Jannik Platz und fing ohne Umschweife an, über sein Lieblingsthema zu sprechen: Mich.
«Und, spielt er immer noch Tomb Raider?»
«Na, logo! Er ist mittlerweile bei Tomb Raider III angekommen. Und er sagt immer noch jedes Mal ‹Oh, wieder so ein Zufall!›, wenn Lara Croft mit dem Arsch wackelt.»
Ja, zum tausendsten Mal, ich spielte gerade für mein Leben gerne Tomb Raider. Und ja, ich machte mich gerne darüber lustig, dass Heldin Lara Croft keine Lage zu brenzlig war, um mit dem Gesäß zu wackeln. Das quittierte ich auch gerne mit der Bemerkung ‹Oh, wieder so ein Zufall!›
Was aber ging das diesen Hosenscheißer an? Er konnte das ja nicht einmal für sich behalten. Seit geraumer Zeit knuffte mir Max-Frederick vor jeder Probe gegen die Schulter und sagte: «Na, Lenni-Löwe, Tomb Raider?»
Zum Glück kam Jannik bald auf sein Lieblingsthema zu sprechen. Und wenn er einmal damit angefangen hatte, vermochte auch ein Philipp ihn nicht zu bremsen.
«Ey, weißt du schon, womit ich am Wochenende wieder gefahren bin? Mit einem Dreitürer! Ich habe mich natürlich ganz hinten hingesetzt. Das ist so geil, ganz hinten und direkt bei einer Tür zu sitzen! Und dann ist da auch nicht so eine breite Bank, weil da auch der Motor in so einem großen Kasten ist und du spürst voll, wie das vibriert, wenn er losfährt. Voll blöd, dass es nur beim PVG Dreitürer gibt und nicht beim HHA. Aber weißt du was? Ich war neulich beim HHA und die haben mir den Cito gezeigt. Das ist die Weiterentwicklung des Citaro!»
Ich verdrehte die Augen. Zugegebenermaßen eher aus Prinzip als aus tatsächlichem Unverständnis. Dazu war ich Jannik früher einfach viel zu ähnlich gewesen. Auch ich hatte mich in seinem Alter an jedem öffentlichen Verkehrsmittel gefreut, das neu war oder sich in irgendeiner Weise von der Masse abhob.
Wohlgemerkt hatte ich mich noch als gemäßigt bezeichnen können. Unser großer Bruder hatte sich früher solange geweigert, in die U-Bahn zu steigen, bis eine des neuen Fahrzeugtyps gekommen war. Das hatte schon einmal eine halbe Stunde dauern können – sehr zum Leidwesen meiner Mutter. Ich hingegen hatte genau deswegen sehr zu ihm aufgesehen. Von daher hätte Jannik mir nicht peinlich sein dürfen.
Andererseits musste man doch sagen, dass er es mit der Liebe zum ÖPNV ganz schön auf die Spitze trieb. Jedes Wochenende verließ er früh das Haus, um Bus zu fahren. Und das tat er dann den ganzen Tag: Bus fahren. Zwei Mal hatte unser Vater ihn schon von irgendeiner entlegenen Polizeiwache abholen müssen. Dem Busfahrer war der kleine Junge in der letzten Reihe irgendwann unheimlich geworden. Jannik nämlich probierte an einem Tag nicht etwa verschiedene Strecken aus. Er fuhr immer wieder mit der gleichen Linie hin und her, saß immer wieder im gleichen Bus. Schließlich war der neu oder hob sich in irgendeiner Weise von der Masse ab.
Seine grenzenlose Zuneigung zum Fuhrpark der Hamburger Hochbahn hatte ihm mittlerweile die Freundschaft mehrerer Busfahrer und einen Artikel in der Mitarbeiterzeitung eingebracht. Und das war doch etwas unsagbar Peinliches. Mein großer Bruder hatte mich schließlich schon früh gelehrt: Was dein kleiner Bruder tut ist immer peinlich, wenn Fremde es mitbekommen.
Und Janniks Monolog bekamen weit mehr Leute als nur Philipp und ich mit.
Es war an der Zeit, sich in den Probenraum zu begeben. Jannik und Philipp erhoben sich. Ich folgte ihnen mit einigen Metern Abstand. Jannik berichtete inzwischen von einer Fahrt mit einer Mitdemneuenvornedran. Das war eine U-Bahn des alten Fahrzeugtyps mit einer neuen Fahrzeugfront. Die Bezeichnung war bereits von meinem großen Bruder und mir verwendet worden. In Zeiten, in denen jede U-Bahn des alten Fahrzeugtyps eine Mitdemneuenvornedran war, war sie eigentlich überflüssig geworden. Jannik erklärte Philipp dennoch ihre Bedeutung.
Im Probenraum trennten sich die Wege der beiden. Jannik als Neuer musste in der ersten Reihe sitzen, Philipp als Alt-Knabe in der dritten.
Er schien darüber irgendwie erleichtert zu sein.