d-Moll

Perlen von Holstein Folge 62

Juni 2002

Wenn Sommer war, wünschte ich mir immer, es wäre Winter. Der Kälte war man wenigstens nur an drei Orten wirklich ausgeliefert: Auf dem Schulhof, an der Bushaltestelle und auf dem Klo. Überall sonst konnte man ihr entfliehen. Hitze hingegen war allgegenwärtig. Nichts konnte von ihr ablenken, nicht einmal Killerspiele. Alles war irgendwie zehn Mal so anstrengend. Mittagessen sogar einhundert Mal. Schnitzel, Kartoffelbrei und Rotkohl, sonst ein immer willkommener Anblick, sahen so unverdaulich wirkend aus wie ein Buch mit Lateinvokabeln.

Den letzten Nerv raubte einem das aber erst dann, wenn die eigene Mutter danebenstand und unablässig auf ihre Armbanduhr sah.

«Mama!», schrie ich.

«Na los, die drei Happs!», sagte sie.

Mit drei Happs meinte sie den rund halben Teller Kartoffelbrei, den ich noch zu essen hatte. Ich stellte vor, ihn in dem Tempo zu verspeisen, das meiner Mutter vorschwebte. Mein Magen schien sich bedrohlich zu dehnen.

«Mama, der Bus fährt in einer Viertelstunde und selbst wenn wir ihn verpassen sind wir noch hundert Mal zu früh!»

«Lennart, du weißt genau: Am Wochenende haben die Busse andauernd Verfrühung! Und du weißt genau: Lieber einen Bus eher! Der bleibt bestimmt wieder irgendwo im Stau stecken!»

«Mama, wir fahren Fähre, die bleibt nicht im Stau stecken.»

«Der Bus kann aber wieder irgendwo im Stau stecken bleiben, bevor wie überhaupt bei der Fähre ankommen und dann ist die weg!»

«Weil in Finkenwerder am Wochenende ja auch immer so viel los ist, Mama.»

Darauf wusste sie mir nichts mehr zu erwidern.

«Na los jetzt!», sagte sie deshalb und ging raus.

Fürs Erste hatte ich meine Ruhe.

Doch schon auf dem Weg zur Bushaltestelle war ich den Launen meiner Mutter erneut ausgesetzt.

«Nun, renn doch nicht so!», rief sie.

Dabei wusste sie ganz genau, warum ich vorweg lief. Ich wollte nicht, dass Altersgenossen sahen, dass ich zusammen mit meiner Mutter unterwegs war. Besonders, wenn sie mich dann noch ständig lautstark auf meine wunderlichen Hobbys ansprach. Meinen Chor, meine Klarinette, mein Klavier. In aller Öffentlichkeit. Das war einfach nur ultrapeinlich. Sie war einfach nur ultrapeinlich.

«Mama!», schrie ich. Und blamierte mich als jemand, der nicht gegen seine Mutter ankam.

Wenigstens war die Rudolf-Kinau-Allee menschenleer. Niemand sah mich mit meiner Mutter. Gleich im Bus aber würde das anders sein. Da würde es von Altersgenossen nur so wimmeln. Wenn nicht gar von Klassenkameraden.

Benjamin war nicht mehr mein Freund. Seit drei Wochen hatte ich tagtäglich seine Schikanen zu fürchten. Doch nicht nur Benjamin, auch alle anderen Kameraden hatten sich gegen mich gewandt.

Der Auslöser war Renegade gewesen. Man hatte mir deutlich gemacht, dass man es nicht gerne sähe, wenn ich das Spiel weiterhin spielte. Eine weiß Gott nicht ungewöhnliche Forderung. Vor einigen Wochen hatte ich bereits Red Faction wegen mangelnder gesellschaftlicher Akzeptanz von meiner Festplatte löschen müssen. Noch einen Tag vorher war es Hauptgesprächsthema gewesen.

Ich hatte mich nicht fügen wollen. Schließlich hatte ich Renegade von meinem eigenen Geld gekauft. An der Schönheit seiner Verpackung hatte ich mich außerdem noch immer nicht satt gesehen. So etwas konnte man doch nicht einfach aufgeben!

Und so war es geschehen: Was durch Age of Empires geeint worden war, hatte Renegade zerbrochen. Von einem Augenblick auf den nächsten war alles, was ich sagte oder tat, nur noch falsch gewesen. Krüppelkind hatten meine Kameraden mich genannt und Spottgesänge erdacht.

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Anfangs hatte ich das verbale Dauerfeuer noch erwidert. Damit hatte ich es aber nur noch schlimmer gemacht. Inzwischen saß ich nur noch auf meinem Stuhl und ließ all ihre Beleidigungen über mich ergehen. Freute mich, dass ich wenigstens nicht wieder mit Papierkugeln beworfen wurde.

Nicht mehr lange und Benjamin würde an eine andere Schule wechseln. Das aber würde an meiner Situation nichts ändern. An seine Stelle waren längst andere getreten. Welche, die noch bis zum Abitur in meiner Klasse bleiben würden.

Sechs Jahre.

Ich war froh, dass heute Konzert war. So hatte ich einen Grund, nicht zu der Abschiedsfeier unserer Physiklehrerin zu gehen. Nach einem Jahr war ihr Referendariat an unserer Schule zu Ende. Nie wieder würde sie mir für irgendwas eine Fünf plus geben können.

An sich war der Termin ja denkbar ungünstig gewählt worden. Es war Fußball-WM. Der türkischen Nationalmannschaft war der Einzug ins Halbfinale gelungen. Das feierten ihre Fans mit einem ausgiebigen Hupkonzert. So hatten sie es bereits getan, als ihre Idole ins Viertelfinale gekommen waren. Die deutschen Fans hatten diesen Brauch nur zu gerne kopiert. Somit gehörte er schon jetzt zum festen Repertoire jedes größeren Fußballspiels.

Frau Siebenkittel machte gute Miene zum bösen Spiel. Meine Mutter hingegen redete sich ordentlich in Rage. Ich stand bei ihnen im Garten vor der Kirche. Um uns herum temporäre Hauptverkehrsadern. Ich stand bei ihnen, obwohl meine Mutter mir hier kein bisschen weniger peinlich war als anderswo. Aber vor wem sollte sie mich hier schon blamieren? Vor meinen Sangesbrüdern? In deren Ansehen stand ich doch ähnlich hoch wie in dem meiner Klassenkameraden.

Und es sah nicht so aus, als ob sich das jemals ändern würde.

Den Rückweg trat ich alleine an. Meine Mutter musste noch etwas in der Stadt erledigen. An der Bushaltestelle Finkenwerder Landungsbrücke traf ich auf zwei Jugendliche. Sie mochten vielleicht drei Jahre älter als ich sein. Ihr Blick fiel auf meine Chorkleidung.

«Ey, kommst du von irgendeiner Hochzeit oder so?», fragte der größere der beiden.

«Nö», antwortete ich.

«Ehrlich nicht? Deine Hose sieht aber mal echt ziemlich edel aus. Sowas trägt man ja eigentlich nur, wenn irgendwas Besonderes ist.»

Ich erwiderte nichts darauf. Eine gescheite Lüge hatte ich nicht parat und ihnen vom Knabenchor erzählen wollte ich nicht. Ich wusste nur zu gut, was dann wieder kommen würde.

Zu meinem Glück war der Bus pünktlich. Ich stieg nach den beiden ein und setzte mich woanders hin.