Westward ho!
Perlen von Holstein Folge 62
September 2002
Mit Sorge hatten Politiker und Fernsehleute auf den nahenden 11. September geblickt. Würden es dieses Jahr erneut Anschläge geben, viel schrecklichere vielleicht? Ich hatte das eher gelassen gesehen. Denn, wie mein Vater so richtig gesagt hatte: «Wenn die Terroristen irgendwas vorhaben, dann werden sie es an jedem Tag machen, außer dem 11. September, wo jeder nur darauf wartet!»
Er sollte recht behalten. Der einzige nennenswerte Vorfall ereignete sich morgens im Klassenraum. Ein Kamerad schrieb das Datum an die Tafel und ersetzte dabei die Elf durch stilisierte Türme des World Trade Centers. Das fanden nicht nur einige Mädchen, sondern auch unser Klassenlehrer äußerst geschmacklos. Er entfernte es umgehend. Bomben aber flogen auch heute nur in Renegade in die Luft. Auch in den nachfolgenden Wochen geschah nichts.
Damit stand der Amerika-Reise des Neuen Knabenchors Hamburg nichts mehr im Wege.
Ich konnte mich darüber nicht so wirklich freuen. Sechzehn Tage würde ich ohne Computer sein. Sechzehn Tage ohne Internet. Dabei musste man doch nur ein Wochenende weg gewesen sein und es war, als wäre man tot gewesen. Alle einschlägigen Renegade-Fanseiten waren vollgestopft mit Neuigkeiten. Die Hälfte davon verstand man gar nicht, so sehr war man in Rückstand geraten. Wie würde es also sein, wenn man die Entwicklung erst einmal sechzehn Tage lang nicht hatte verfolgen können? Ich konnte ja davon ausgehen, dass man uns systematisch von allen Computern mit Internetanschluss fernhalten würde.
Wegen der Killerspiele machte ich mir ebenfalls Sorgen. Icewind Dale hatte ich gerade noch rechtzeitig fertigspielen können, deswegen hatte Mafia aber liegen bleiben müssen. Nun war ich so weit gekommen – bis Level achtzehn! – und würde nun nicht zu Ende bringen können, was ich angefangen hatte. Zum einen, weil ich in sechzehn Tagen wohl alles verlernt und vergessen hätte, zum anderen, weil ich dann sowieso nur noch ein Spiel spielen würde: Battlefield 1942. Das nämlich würde ich mir in Amerika kaufen.
Ich konnte mein Glück kaum fassen. Schon bald würde ich ein Killerspiel besitzen, um das mich wirklich jeder beneiden wurde. Eines, das von Spielerschaft und Presse allenthalben in den höchsten Tönen gepriesen wurde. Und das in der amerikanischen Originalversion. Meine Klassenkameraden hingegen würden allesamt leer ausgehen. Ihnen würde ich nichts mitbringen. Trotz der unerwarteten Wende vor einigen Wochen.
Eines schönen Morgens war es passiert. Von einem Augenblick auf den nächsten war alles, was ich sagte oder tat, wieder richtig gewesen. Meine Klassenkameraden hatten mir das, wie sie fanden, überaus großzügige Angebot unterbreitet, wieder ihr Freund sein zu dürfen. Ich dürfte gerne auch mal vorbeikommen und bei ihnen Renegade 2 spielen. Einzige Bedingung war, dass wir uns darauf verständigten, dass meine Kameraden sich nichts zu Schulden haben kommen lassen. Und sollte es doch zu aggressiven Handlungen gekommen sein, so waren diese einzig und allein von Benjamin ausgegangen. Der war ja nun aber glücklicherweise nicht mehr da. So konnten wir diesen albernen Konflikt nun endlich vergessen und den Blick in die Zukunft richten.
Ich hatte abgelehnt und im Übrigen darauf hingewiesen, dass die Entwicklung von Renegade 2 kürzlich eingestellt worden war. Letzteres hatte man mir ungesehen geglaubt, ersteres nur mit Verwunderung zur Kenntnis nehmen können. Und so war man wieder angekommen, immer wieder. Jedes Mal mit neuen Spielarten der gleichen Argumente. Einen ähnlichen Variantenreichtum hatte ich zuvor nur bei ihren rund fünf verschiedenen Beleidigungen erlebt. Beeindruckt hatte mich das nicht. Ich würde nur zu gerne der Renegat sein, bis man mir eine plausible Erklärung für das Geschehene lieferte. Was sie anderenfalls davon hatten, würden sie schon noch bitter erfahren, wenn ich erst mal Battlefield 1942 spielte.
Christopher indes würde den amerikanischen Boden nicht mit seinem Digimon-Ball besudeln können. Seine Mama wollte nicht, dass er mitkam. Wer konnte schon sicher sein, dass die Terroristen nicht doch unser Flugzeug herauswinkten und für irgendeinen Anschlug benutzten? Sie hatte die Reise für ihren Sohn storniert und ihn bei dieser Gelegenheit gleich ganz aus dem Chor genommen. Wer wusste schon, welchen Gefahren er dort sonst noch ausgesetzt würde?
Jannik musste ebenso zuhause bleiben. Frau Siebenkittel war der Meinung, dass er nicht reif genug für so eine lange Chorfahrt war. Völlig zu recht, wie ich fand. Ich würde beim Killerspiel-Kauf in diesem großen, fernen Land dennoch nicht auf mich alleine gestellt sein. Meine große Schwester Annika kam mit.
Die hatte ein Auslandsjahr in Wisconsin verbracht und war als zukünftige Wahl-Amerikanerin von diesem zurückgekehrt. Sie redete grundsätzlich Englisch mit uns, hatte alle Videos mit synchronisierten Filmen aus ihrem Zimmer verbannt und ging nie ohne Schlafmaske ins Bett. Entsprechend groß war ihre Vorfreude.
Natürlich interessierte sie ungemein, ob es mir genauso ging. Immer mal wieder fragte sie: «Are you looking forward to travelling to America, Leo?» Ich bejahte dies stets, auch wenn ich wusste, dass sie mit America nicht Battlefield 1942 meinte.