Blow boys, blow, for Californio
Perlen von Holstein Folge 67
Nach nur drei Tagen hieß es auch schon wieder Abschied zu nehmen von New York und seinem YMCA. Ein letztes Mal noch gab es One bagel with cream cheese and orange juice, dann fuhren wir zum Flughafen. Die nächste Etappe war San Francisco.
In der Abflughalle gesellte sich ein Knabe zu mir und Annika. Nicht irgendein Knabe, sondern der kleine Philipp. Der hatte es in der Zwischenzeit geschafft, Annikas Herz im Sturm zu erobern. Sie legte ihren linken Arm um ihn und streichelte ihm durchs Haar. Philipp aber interessierte sich gerade mal wieder vornehmlich für eines: Mich.
«Und was macht Lenni-Löwe so außer Chor? Spielt er immer noch so viel Tomb Raider?», fragte er.
«Are you still playin’ Tomb Raider, Leo?», sagte Annika.
«Nein», antwortete ich.
«Was spielt er denn sonst?»
«What games do you play, Leo?»
«Alarmstufe Rot 2.»
«Oh, Mann, das ist doch dieses bescheuerte Spiel mit den Panzern, die sich als Baum tarnen!»
Ja, richtig, Alarmstufe Rot 2 war das Spiel mit den Mirage-Panzern. Und was gab es daran auszusetzen? Die waren cool. Noch lustiger aber waren die Prisma-Panzer. Welch himmlisches Vergnügen, es bereitete den gegnerischen Stützpunkt mit zwanzig bis dreißig dieser Spielzeuge zuzumüllen. Es war unbeschreiblich. Zu bemängeln war an dem Spiel lediglich, dass es keine Raketenwerfertypen gab. Einfach, weil man so bei etwaigen Verwünschungen um die Verwendung dieses Wortes betrogen wurde: Raketenwerfertypen. Der schönste dreihebige Jambus aller Zeiten.
Jedenfalls hatte Philipp keine Ahnung von Killerspielen.
Das Gespräch war beendet, doch war ich die kleine Nervensäge keineswegs los. Weil er sich natürlich auch beim Check-In dicht an Annika hielt, saß er im Flugzeug neben uns. Wir hatten drei Sitze in der letzten Reihe abbekommen, weit abgelegen vom Rest des Chores und allen sonstigen Passagiere. Ideale Bedingungen für Philipp, mir ungeniert auf die Nerven zu gehen.
«Darf ich euch beide mal fotografieren?», fragte er Annika.
«Nee, lass das lieber. Leo wird nicht gerne fotografiert», sagte sie.
«Ach so», erwiderte Philipp. Er nahm seine Kamera und richtete sie direkt auf mich. Ich verkroch mich in der hintersten Ecke meines Platzes, doch das trieb ihn nur noch weiter an. Schließlich löste ich den Sicherheitsgurt und machte Anstalten, unter den Sitz zu kriechen.
«Leo, don’t overdo it!», sagte Annika. Dann hielt sie Philipp am Handgelenk fest.
Für den Rest des Fluges hatte ich meine Ruhe.
Aufgrund der Zeitverschiebung war es noch früher Nachmittag, als wir in San Francisco eintrafen. Wir durften die Stadt ein wenig auf eigene Faust erkunden – in Patengruppen, versteht sich. Ich kam dieses Mal mit Annika zusammen. Mit Annika und nicht wieder mit Norbert. Gottseidank. Einen Gewaltmarsch in der kalifornischen Mittagssonne hätte ich wohl kaum lebend überstanden. Außerdem würde Annika jetzt vielleicht endlich mit mir Battlefield 1942 kaufen, dachte ich. Sie aber dachte anders.
Bergauf, bergab ging es durch die Straßen von San Francisco, deren vollständig rechtwinklige Anordnung mich an Karopapier denken ließ. Wir sahen altmodische Häuser, altehrwürdige Cable Cars und – aus der Ferne – die Insel Alcatraz. Ich wusste aus Alarmstufe Rot 2, dass auf ihr ein ehemaliges Hochsicherheitsgefängnis stand. Das war mal eine Sehenswürdigkeit, die mich wirklich interessiert hätte. Doch, wie sollte es auch anders sein: genau dort würden wir nicht hinfahren.
Annikas Ziel war ein großer Picknickplatz direkt an der Bucht. Hier verweilten wir ein wenig und aßen von unseren Lunch-Paketen. Mir fiel erst jetzt auf, wie sehr San Francisco der Stadt Lost Heaven aus dem Killerspiel Mafia ähnelte. Mit wehmütig-verschmitztem Lächeln dachte ich daran zurück, wie auf ihren Straßen eine Horde Gangster mit Maschinenpistolen Jagd auf mich gemacht hatte. Die Polizei war natürlich schnell zur Stelle gewesen, um ihn zu schnappen, diesen Übeltäter. Nicht den Anführer der Gangster freilich, sondern mich, der bei Rot über die Ampel gefahren war.
Irgendwann bemerkte jemand, dass die Zeit schon recht weit vorangeschritten war. Und so gab es doch noch einen Gewaltmarsch in der kalifornischen Mittagssonne, denn: Das mit dem Dollar für jede verspätete Minute war kein Witz gewesen. Marc hatte heute Morgen noch einmal mit Entschiedenheit gesagt: «Das ist eine Regel wie jede andere auch.» Für mich war das besonders heikel. Ich hatte genauso viel Taschengeld mit, wie ich für den Kauf von Battlefield 1942 benötigte. Wenn wir auch nur eine Minute zu spät wären, würde ich es mir nicht mehr leisten können. Dann wäre er aus, der Traum von der amerikanischen Originalversion.
Wir fuhren zwei Stationen mit dem Cable Car, den Rest des Weges rannten wir als wäre Horde Gangster mit Maschinenpistolen hinter uns her. Vor dem Bus stand Marc mit einigen anderen Erwachsenen.
«Sind wir pünktlich?», fragte ich.
Er lachte nur.
Wir fuhren zur Golden Gate Bridge, genauer: über die Golden Gate Bridge und parkten dann bei ihr, um sie noch einmal zu Fuß zu erkunden. Das war tatsächlich möglich, es gab einen Fußgängerweg. Dabei war schon vom Bus aus recht gut zu sehen gewesen, was die Golden Gate Bridge war: Eine große, rote Hängebrücke. Nichts, das gesehen zu haben ich als besondere Bereicherung für mein Leben empfand. Die Hamburger Köhlbrandbrücke war auch groß.
Dennoch, als Annika später fragte: «How did you like the Golden Gate Bridge?», sagte ich: «Cool!» Das wollte sie hören.
Inzwischen war es Abend geworden. Wir fuhren zur Grace Cathedral. Dort wurden die Knaben von ihren Gastfamilien in Empfang genommen. Die anderen Knaben. Ich galt dank Annika als Mann und durfte mit im Motel übernachten.
Auf dem Weg dorthin brach in der letzten Reihe ein kleinerer Tumult aus.
«Mann, ich fass es einfach nicht!»
«Langweiler, Opis, Spaßbremsen!»
«Genau: Spaßbremsen, verdammte Spaßbremsen!»
Die Stimmen gehörten Jonas, Klaas und Löning.
Worüber sie sich so entrüsteten, begriff ich erst mit der Zeit. Offenbar hatten sie vorgeschlagen, auf dem Weg zum Motel noch einen kleinen Schlenker irgendwohin zu machen. Marc hatte dies kategorisch abgelehnt. Das konnten und wollten die drei nicht hinnehmen.
«Ihr Scheiß-Spaßbremsen!»
Löning war mir ein Begriff, seitdem wir in New York gelandet waren. Jedes Mal nämlich, wenn sein Name bei der Anwesenheitskontrolle genannt wurde, schrie jemand: «Löning, Löning-Dröhning!» Und ein anderer fügte hinzu: «Stöhning!»
Klaas kannte ich bereits länger für böse Bemerkungen, bei denen man nie wusste, ob sie ernst gemeint waren.
Bei Jonas handelte es sich nicht um den Jungen, mit dem ich mich früher immer über Age of Empires unterhalten hatte. Es handelte sich um einen mittlerweile fast erwachsenen Menschen gleichen Namens. Er war mir bereits seit meinen ersten Hauptchorwochen geläufig. Damals hatte Jonas noch in der Alt-Reihe gesessen. In beinahe jeder Probe hatte Frau Siebenkittel zum ihm gesagt: «Jetzt lass mal bitte endlich deine Kommentare.» Dabei waren die meistens sehr treffsicher gewesen.
Einmal zum Beispiel, da hatte Frau Siebenkittel gesagt: «Da muss man eben manchmal Prioritäten setzen!» Eine Äußerung, die dem damaligen Werbespruch für Magnum-Eis ziemlich ähnlich gewesen war. Völlig zu recht hatte Jonas deshalb gerufen: «Schleichwerbung!»
Zu solcher Höchstform aufgelaufen wie heute war er allerdings bisher noch nie. Er, Klaas und Löning brüllten nun nicht mehr, sie sangen: