A new Beginning
Perlen von Holstein Folge 70
Am nächsten Tag ging die Reise weiter. Wir fuhren nach Monterey. Eine Stadt, von der ich noch nie im Leben etwas gehört hatte. Sie war, soweit ich das verstanden hatte, auch nicht besonders groß. Ich fragte mich, was wir da sollten. Wenn man verreist, sucht man doch eigentlich nur wichtige Orte auf. Dort waren schließlich all die Sehenswürdigkeiten zu erwarten, die es einem ermöglichten, sein Leben mit Inhalt zu füllen.
Es war wahrscheinlich mehr ein Zwischenhalt, den wir dort einlegen würden, damit die Fahrt nach Los Angeles nicht ganz so lange dauerte. Der Busfahrer schien dennoch nicht ganz einverstanden damit zu sein, uns dorthin bringen zu müssen. Statt auf den Highway fuhr er direkt in eine Sackgasse. Er wendete, fuhr aus der Sackgasse heraus, wendete erneut und fuhr gleich wieder in sie hinein. Dieses Missgeschick war ihm in den vergangenen Tagen schon häufiger passiert.
Für Jonas, Klaas und Löning gab es kein Halten mehr.
Drei Stunden später trafen wir in Monterey ein. Dort gab es keinen Chor. Zumindest keinen, der bereit war, uns zu beherbergen. So durften auch die anderen Knaben dieses Mal im Motel übernachten. Ein Ende der Zweiklassengesellschaft bedeutete dies freilich nicht. Die Männer, Annika, Andrea und ich würden jeweils zu zweit ein Apartment beziehen, die anderen Knaben zu viert. Wohlgemerkt waren die Apartments alle gleiche groß und alle mit der gleichen Anzahl an Betten ausgestattet: Zwei.
«Ja», sagte Marc, «wenn ihr gleich in eure Zimmer kommt, wundert euch nicht. Das, was ihr da seht, sind keine Ehebetten, sondern, wie das in amerikanischen Motels üblich ist, Queen-Size-Betten. Die sind rund Ein-Meter-Fünfzig breit. Ihr passt da also zu zweit rein, müsst euch nur vielleicht ein bisschen zusammenkuscheln.»
Ein Stöhnen ging durch die Reihen. Ich konnte das nur amüsiert zur Kenntnis nehmen.
Unser einziges Konzert in Monterey gaben wir in der Bethlehem Lutheran Church, die schräg gegenüber von unserem Motel lag. Sie war nicht nur bedeutend kleiner als die die St. Patrick und die Grace Cathedral, sondern offenbar auch wesentlich jünger. Von der Form her hätte sie ein umgedrehter Schiffsrumpf sein können, dessen Rundungen man glattgeschliffen hatte.
Bevor wir einzogen, wurden Pfefferminzblättchen verteilt. So war es Sitte, seitdem wir amerikanischen Boden betreten hatten: Jeder bekam ein Blättchen und legte es sich auf die Zunge – hartgesottene auch darunter. Je größer der Schmerz, desto befreiter der Atem.
Nachdem die Pfefferminzblättchen herumgegangen waren, fragte Frau Siebenkittel: «Hat jetzt jeder seine Drogen?»
Zur großen Ausnahme war das einmal kein Witz, den sie sich selbst ausgedacht hatte. Unter den Männern kursierte seit Tagen die Bezeichnung LSD-Blättchen. Erstaunlich genug war ihre Wirkung ja.
Man hätte also meinen können, dass jeder diese Bemerkung richtig einordnen konnte. Dem war aber nicht so.
«Was sind Drogen?», fragte Pascal.
Pascal war einer, bei dem nichts den Erwartungen entsprach. Es entsprach nicht den Erwartungen, dass er Pascal hieß, aber der einzige Schwarze war, der je in unserem Chor mitgesungen hatte. Es entsprach nicht den Erwartungen, dass er neun Jahre alt, aber mindestens einen Kopf größer war als ich mit meinen vierzehn. Und nun entsprach es nicht den Erwartungen, dass er auf dieser Welt lebte, aber nicht wusste, was Drogen sind.
Ich bekam einen nie dagewesenen Lachanfall. Doch nicht nur ich, auch David lachte hemmungslos.
«‹Was sind Drogen?›, haha. Der Junge ist echt so prall, haha!», sagte er.
«Ja, haha, der ist echt so blöd!», erwiderte ich.
Nachdem das Konzert zu Ende war, kam David auf mich zu.
«Ey, Lenni-Löwe, was sind Drogen?»
Und schon lachte ich wieder.
Das lockte andere Knaben an. Imanuel, Frans, Max-Frederick, Philipp und noch einige mehr. Sie alle lachten mit uns.
«Pascal ist echt so prall!», sagte David.
«Ja, der ist echt so blöd!», erwiderte ich.
Wir alle waren uns einig: Nicht zu wissen, was Drogen sind, war peinlich. Pascal war schließlich neun Jahre alt. Da wusste man das doch längst. Alle kleinen Knaben bestätigten das. Ich hatte es auf jeden Fall in dem Alter schon gewusst. Damals hatte ich Frei Geboren von Joy Adamson gelesen und mich über die Selbstverständlichkeit gewundert, mit der da Drogenkonsum beschrieben wurde. Mein Vater hatte mich beruhigt: «Mit Drogen meinte man früher nur Medikamente, Lennart. Der Begriff hat sich erst später auf diese Rauschmittel übertragen.» So ganz glauben können hatte ich das nicht. Joy Adamson hatte nämlich mehrmals geschrieben, dass sie Löwin Elsa zur Strafe geschlagen hatte. Geschlagen! Eine vollausgewachsene Löwin! Wie Frau Adamson das überlebt haben wollte, hatte sie nicht erklärt.
Am nächsten Morgen betrat ich mit einem Gefolge aus Knaben den Bus. Pascal saß alleine in einer der hinteren Reihen. Wir scharten uns um ihn.
«Pascal, was sind Drogen?», fragte einer.
«Oh, Drogen sind giftige Chemikalien!», antwortete er.
Wir brachen in gellendes Gelächter aus.
Ich setzte mich auf dem Sitz vor Pascal und klappte die Rücklehne nach hinten. Pascal fing sogleich an, heftig an ihr zu rütteln.
«Oh, jetzt nimm doch mal die Tür da weg!»
Wir hätten Pascal natürlich auch ausgelacht, wenn er etwas wesentlich Gescheiteres gesagt hätte. Wir hätten ihn wahrscheinlich selbst dann ausgelacht, wenn seine Reaktion schlagfertig gewesen wäre. Was er gesagt hatte, übertraf aber unsere kühnsten Erwartungen. Eine Rückenlehne als Tür zu bezeichnen, das war ja fast so witzig wie nicht zu wissen, was Drogen sind. Als wir mit Lachen fertig waren, hatte ich Tränen in den Augen.
Unser heutiges Ziel war ein Outlet-Store. Annika war Feuer und Flamme. Die Männer und Andrea freuten sich auch schon riesig. Den Grund dafür hatte meine Schwester mir vorhin im Hotelzimmer erklärt.
«In an outlet store you can buy things right where they’ve been produced. Often you can get branded products really cheap there, ’cause, you know: They don’t have to transport them through the whole wide world and there is no one, who wants to earn money with it, except the manufacturer.»
«Gibt es da auch Computerspiele?»
«I guess not, normally you can get clothes, bags and shoes and stuff like that. But well, let’s see.»
‹Let’s see› hieß sinngemäß: ‹Ich würde mich sehr wundern, wenn es so wäre.› Doch natürlich machte ich mir auch dieses Mal Hoffnung. Immerhin: Ich war nicht der einzige, der schwer – um nicht zu sagen: bitter – enttäuscht wurde.
Am Eingang hing ein Übersichtsplan, auf dem die Logos der hier angebotenen Marken abgebildet waren. Ich glaubte zunächst, der einzige zu sein, der außer Reebok keine von ihnen kannte. Doch auch Annika und Andrea machten schnell einen eher ratlosen Eindruck.
Wir gingen zu Reebok. Begeisterungsstürme riefen die weißen Turnschuhe bei Annika und Andrea nicht hervor. Doch einem drastisch reduziertem Gaul schaut man nicht ins Maul. Annika griff sich ein Paar Schuhe und blickte auf das Preisschild.
«Hm, das ist ja jetzt nicht wirklich günstig», sagte sie.
‹Kommen Sie her, treten Sie ran! Hier werden Sie genauso beschissen wie nebenan!›, hätte Opa Max jetzt wohl gesagt.
Morle und Guido stießen zu uns.
«Na, habt ihr schon was gefunden?», fragte Guido.
«Ja, nee, also irgendwie ist das hier ziemlich lahm», erwiderte Annika.
Keine schöne Erkenntnis, bedachte man, dass für unseren Aufenthalt hier drei Stunden eingeplant worden waren. Was man in dieser Zeit alles an tollen Killerspielen hätte finden können.
Annika fing an, mit Morle herumzuturteln. Für sie war das wohl ein sinnvoller Weg, das Beste aus der Situation zu machen. Für mich war es ein Zeichen, dass es Zeit zum Gehen war.
Ich setzte mich von den anderen ab und begab mich zu einem Laden, in dem Mangas, Animes und dazugehörige Kostüme feilgeboten wurden. Dort traf ich auf David.
«Na, Alter!», sagte er.
Wir kamen über Ranma ½ ins Gespräch. Mein momentaner Lieblings-Anime.
«Haha, ich finde ja diesen Opa immer so geil, der den Mädchen immer die Unterwäsche klaut!», sagte David.
«Ja, der ist geil!», erwiderte ich, «Aber am geilsten ist immer noch der Panda!»
«Ja, haha, wenn der da steht und diese Schilder mit den japanischen Schriftzeichen hochhält und dann die Musik dazu, das ist so Panne, hahaha!»
Panne war schon wieder so ein Wort, über das man desto mehr lachen musste, je länger man darüber nachdachte. David schien für derartige Wörter ein rechter Experte zu sein. Auch prall klang ja irgendwie ziemlich komisch. Besonders in dem Zusammenhang, in dem er es stets verwendete.
Ich krümmte mich vor Lachen.
Wir unterhielten uns noch eine ganze Zeit lang. So wurde es – zumindest für mich – doch noch ein schöner Tag.