The Longest Journey
Perlen von Holstein Folge 71
Wir hatten heute eine lange Fahrt vor uns. Wie lange, das wusste ich nicht genau und den, der es wusste, konnte ich nicht fragen. Für Marc zählte diese Frage nämlich zu denen, die nicht gestellt wurden. Wie lange eine Busreise von Monterey nach Los Angeles dauerte, würde ich erst am Ende des Tages wissen.
Annika hatte in San Francisco aufgehört, meine Sitznachbarin zu sein. Auf der Fahrt nach Monterey hatte Nathanael neben mir gesessen. Ein Mann mit Ziegenbart, der den ganzen Tag River Cola trank und nicht viel redete. Er hatte mich dennoch spüren lassen, dass er über diese Zwangsgemeinschaft alles andere als glücklich gewesen war.
Er würde heute von mir verschont bleiben. Schon beim Einsteigen beorderten einige jüngere Knaben mich zu sich in die hinteren Reihen. Sie stritten sich gar um mich als Sitznachbarn. Ich entschied mich für Gaming-Max. Ihm hatte ich es schließlich zu verdanken, seit geraumer Zeit nicht mehr zu Fuß nach Maschen kommen zu müssen. Seine Mutter nahm mich mit dem Auto mit. Meine Mutter fand das gut, obwohl sie seit Kurzem wusste, worüber Gaming-Max und ich uns auf der Rückbank immer unterhielten. Wir hatten spätabends noch ein Konzert gehabt und Gaming-Max’ Mutter hatte meine Mutter und mich ein Stück mitgenommen. Ich hatte die Zeit genutzt, Gaming-Max meine Lieblingsszenen aus dem Killerspiel Tiberian Sun zu zitieren:
«‹Die Wahrscheinlichkeit für ein positives Ergebnis lässt sich erhöhen, wenn wir zum Hauptstützpunkt zurückkehren und den Feind von dort aus bekämpfen.› – ‹Definiere positives Ergebnis, CABAL.› – ‹Sie sterben alle.›»
«Lennart!», hatte meine Mutter geschrien.
Eine Reihe vor uns saß Philipp. Er war stets mit von der Partie gewesen, wenn wir uns über Pascal lustig gemacht hatten. Ich hatte ihn dazu nicht eingeladen. Weggeschickt aber hatte ich ihn auch nicht. Der Grund dafür war ein einfacher: Seit dem Flug nach San Francisco war er für seine Verhältnisse zurückhaltend gewesen, also nicht wieder zudringlich geworden.
Heute aber steckte er seinen Kopf zwischen den Stuhllehnen hindurch, kaum dass sich der Bus in Bewegung gesetzt hatte.
Er sagte: «Es war im Jahre 1602, als wir die uns vertrauten Gefilde verließen, um in der Ferne unser Glück zu suchen, wohlwissend um das schier unberechenbare Risiko, welches solch gewagter Aufbruch in sich barg –»
«Ach, Gott, Anno 1602», fiel ich ihm ins Wort.
«Das ist geil, das Anfangsvideo ist so cool.»
«Naja, am besten finde ich immer noch das Video mit dem leeren Schaukelstuhl, das kommt, wenn du den Pause-Knopf drückst.»
«Haha, das ist echt so derbe bescheuert. Noch besser sind aber die Videos, die mitten im Spiel kommen.»
«Du meinst: ‹Ein Erzvorkommen wurde entdeckt› und ‹Eine Goldader wurde entdeckt!› Und dann immer dieses Geräusch von der Spitzhacke: Klack, klack, klack und dann die Frauenstimmen: A-ah!»
«Ja, haha. Oder: ‹Ein Brand vernichtet eure Häuser!› Und das geilste ist ja wohl: Die Häuser brennen erst, wenn du eine Feuerwehr gebaut hast. Davor passiert das gar nicht!»
Eine dieser Beobachtungen, die man immer irgendwann machte, wenn man ein Killerspiel mit wahrer Leidenschaft spielte.
«Oh, Mann!», sagte ich.
«Du spielst also auch Anno 1602?», fragte Philipp.
«Naja, ich habe das gespielt, bevor ich meinen neuen Computer bekommen habe. Seitdem habe ich das nicht mehr gespielt.»
«Und hast du auf deinem neuen Computer als erstes gespielt?»
«Alarmstufe Rot 2.»
«Das Spiel mit den Panzern, die sich als Baum tarnen –»
«Die sind geil. Alleine, was die immer sagen, wenn du sie anklickst: ‹Hier stehen nur wir Bäume rum›, ‹Etwas Schatten gefällig?›, ‹Eine natürliche Zuflucht –›»
«– wurde entdeckt!»
«Nein, das sagt nur der Typ von Anno 1602 immer.»
«Das ist aber anders als Alarmstufe Rot 2 nicht bescheuert.»
«Weißt du, wer beim Konzert auf einer Kiste stehen muss, der hat hier nichts zu melden.»
Philipp war zwar noch klein, seine Stimme aber nichtsdestoweniger tief. Er sang deshalb im Alt mit – als einziger Zehnjähriger zwischen lauter vierzehnjährigen. Damit man ihn im Konzert überhaupt sah, musste er immer eine Postkiste mit auf die Bühne nehmen. Der wahrgewordene Traum aller Omas im Publikum. Und ein gefundenes Fressen für jeden, der den kleinen Philipp ein wenig ärgern wollte.
Philipp nämlich ließ sich davon nicht ein wenig, sondern viel ärgern.
«Ha-Ha-Ha –», sagte er.
«Spielkind», antwortete ich.
«Ha-Ha-Ha – Du bist ja fast so lustig wie Ulrich. Weißt du, der sagt immer: ‹Spielkind, iss immer schön deine Fruchtzwerge, damit du groß und stark wirst.›»
Ich fand es bei näherer Überlegung ja schon etwas merkwürdig, dass ich Philipp so jung fand. Als ich fünf gewesen war, war mir ein Zehnjähriger unendlich alt erschienen. Als ich dann selbst zehn geworden war, war ich mir überaus reif und beinahe vorgekommen – immer war ich jetzt in einem zweistelligen Alter gewesen. Nun, da ich aber 14 war, war ein Zehnjähriger für mich ein Klein- oder eben Spielkind. In der Schule wäre Philipp für mich wohl nichts weiter als ein dahergelaufener Fünftklässler gewesen, den man in der Cafeteria wegdrängelte. Hier aber saß er neben mir und trug mir ulkige Gedichte vor.
«Dunkel war’s, der Mond schien helle, leise brüllte die Natur, als ein Wagen blitzeschnelle langsam um die Ecke fuhr. Drinnen saßen stehend Leute, schweigend ins Gespräch vertieft, als ein totgeschoss’ner Hase auf dem Sandberg Schlittschuh lief. Auf ’ner roten Bank, die grün angestrichen war, saß ein blondgelockter Jüngling mit kohlrabenschwarzem Haar. Neben ihm ’ne alte Schrulle, die noch keine 16 Jahr, in der Hand ’ne Butterstulle, die mit Schmalz bestrichen war.»
«Oh, Mann», sagte ich. Konnte ich dazu nur sagen.
«Das ist auch so bescheuert», sagte Philipp, «eine rote Bank, die grün angestrichen war. Ist doch voll unlogisch.»
«Naja, wieso, die Bank kann doch ursprünglich rot gewesen und dann grün angestrichen worden sein.»
«Stimmt. Aber ‹drinnen saßen stehend Leute›, das geht doch wirklich nicht.»
«Nee, das geht nicht – Ey, kennst du das? ‹Nikotin und Alkohol sind des Menschen Feinde wohl, doch in der Bibel steht geschrieben, man soll auch seine Feinde lieben!›»
«Haha, wie geil»
«Kennst du auch längste Wort der Welt?»
«Nee, sag mal.»
«Oberweserdonaudampfschifffahrtsgesellschaftkapitänsmützenkordelknopf.»
«Haha, das ist wie Glühfadenlampenglühdrahthersteller.»
«Oder Vitaminmangelerscheinungsvermeidungsmaßnahmen.»
«Hahaha.»
«Das Geile ist, wenn du das bei Microsoft Word eingibst, wird dir das nicht als Fehler angestrichen.»
«Hahaha, der kommt bestimmt mit so vielen Buchstaben nicht zurecht, hahaha.»
Wir unterhielten uns noch eine ganze Zeit lang. Philipp erzählte mir, welche Menschen er mochte und welche er nicht mochte. Den mitgereisten Arzt Herrn Panzer-von Iljin etwa, den mochte er. Er hieß nämlich zum einen Panzer-von Iljin und war zum anderen Facharzt für Allgemeinmedizin.
«Das ist doch so bescheuert unlogisch. Facharzt für Allgemeinmedizin.»
Klaas hingegen, den mochte Philipp nicht. Der sagte nämlich immer, ziemlich aggressiv: «Ich bin nicht aggressiv!»
Den Mann, der ihn jetzt um seinen Gameboy bat, mochte Philipp offenbar ebenfalls nicht. Er sagte Nein, immer wieder Nein.
«Also Philipp, das finde ich jetzt mal echt unglaublich zickig von dir! Möchtest du mir den Gameboy wirklich nicht einfach geben? Du benutzt ihn doch zur Zeit gar nicht.»
Philipp blieb hart. Der Gameboy ging an den Sohn von Herrn Sobirey, der darauf das Killerspiel Super Mario Land spielte. Philipp, David, Gaming-Max und ich grölten voller Innbrunst die Hintergrundmelodie, Sobirey Junior fluchte im Takt dazu.
Nach Sobirey Junior war Gaming-Max mit Spielen an der Reihe. Das Grölen war inzwischen irgendwie langweilig geworden, uns stand der Sinn nach was Neuem. Ich hatte auch schon eine Idee.
«Ey, weißt du, wie man jemanden beim Spielen richtig geil nerven kann?», fragte ich Philipp.
«Nee, sag mal.»
«Du stellst dich neben ihn und sagst immer wieder: Schon verloren? Schon verloren? Schon verloren?»
«Haha, geil!»
Und schon legten wir los: «Schon verloren? Schon verloren? Schon verloren?»
Ein Spaß, der zugegebenermaßen nicht von mir, sondern von meinem großen Bruder stammte. Der aber hatte mich das eigentlich nur ein einziges Mal gefragt. Den Einfall, es jemanden immer wieder zu fragen, hatte ich gehabt. In der sechsten Klasse hatten wir sie allesamt zur Weißglut getrieben, ich und meine damaligen Freunde.
Auch bei Gaming-Max war der Erfolg dieses Psychospiels durchschlagend. Binnen einer halben Minute hatten wir ihn derart wütend gemacht, dass er Philipp seinen Ellenbogen in den Rücken rammte. Philipp heulte und schrie.
Um ihn zu trösten, las ich ihm die schönsten Passagen aus meiner Killerspiel-Zeitschrift, dem Gamestar, vor.
«Ey, hier über Empire Earth: ‹Grafik: Gewöhnungsbedürtiger 3D-Bastelbogen-Look mit kunterbunten Farben.› Oder, noch besser: ‹Necromania blamiert sich schon nach wenigen Spielminuten als grottenhässlicher, sterbenslangweiliger Spielspaßkiller.›»
Ein grottenhässlicher, sterbenslangweiliger Spielspaßkiller. Ja, das war doch mal ganz nach Philipps Geschmack. Er lachte laut auf und verlangte, dass ich ihm die Passage noch einmal vorlas. Ich kam dem nach. Wieder und wieder. Wieder und wieder und wieder.
Wir waren inzwischen seit einigen Stunden unterwegs und ich fand, dass die Fahrt langsam mal zu Ende sein konnte. Ich hatte mich satt gesehen an den Speed-Limit-Schildern und der endlosen Weite des Pazifiks mit seiner Küste. Doch die Fahrt war noch lange nicht zu Ende, sie ging eigentlich jetzt erst richtig los.
Irgendwer hatte die Idee, dass man die Zimmerverteilung doch mal ein wenig reformieren könnte. Zumindest die der Knaben. Was folgte, war eine lange und hitzige Debatte, die sich schon bald über den ganzen Bus ausgebreitet hatte. Den meisten ging es nicht darum zu klären, mit wem sie in ein Zimmer gehen wollten. Sie wollten klarstellen, wen sie auf keinen Fall bei sich haben wollten.
Zwei Stunden lang machten die Erwachsenen gute Miene zum bösen Spiel. Dann langte es Frau Siebenkittel.
«Ihr habt jetzt lang genug diskutiert, die Zimmerverteilung bleibt wie sie ist!»
Einige Knaben wollten zumindest die Änderungen durchsetzen, auf die sie sich schon im Groben geeinigt hatten. Und nach nicht einmal zehn Sekunden war die Debatte wieder genauso hitzig wie zuvor.
«Nein!», sagte Frau Siebenkittel, «Ihr redet jetzt über was Anderes! Die Sitzordnung bleibt! Wie! Sie! Ist!
Das wirkte. Endlich war Ruhe im Karton.
Am Horizont erblickte ich die Lichter von Los Angeles. Annika jedoch hatte mich gewarnt, mich nicht zu früh zu freuen. «Going from one place in L.A. to another takes five hours, even by car, Leo.» Tatsächlich sollte es noch etwa zwei Stunden dauern, bis Marc uns endlich bat, uns aussteigefertig zu machen. Er hatte indes eine freudige Botschaft zu verkünden.
«Auf das Hotel könnt ihr euch schon mal freuen, das ist nämlich ein Vier-Sterne-Hotel mit Meerblick.»
Die Knaben johlten, die Männer applaudierten. Ein Vier-Sterne-Hotel, das hatte es bisher noch auf keiner Chorreise gegeben. Selbst das in Regensburg hatte ja nur drei gehabt. Und das war schon ziemlich vornehm gewesen. Gebannt warteten wir auf das, was uns nach dem Aussteigen erwarten würde.