Pearls from Holstein
Folge 72
Philipp war außer sich.
«Ey, unser Zimmer ist so Scheiße. Weißt du, da sind vier Betten, aber eins davon hat nur drei Beine. Deswegen musste ich heute Nacht mit Florian in einem Bett pennen. Das ist aber nicht so ein breites Bett wie in Monterey, sondern so ein beschissenes Etagenbett wie in Maschen, das heißt, wir haben schön direkt nebeneinander gelegen. Und Tim, weißt du, der musste im Schrank schlafen. Ey, und als wir gestern ins Bad kamen, da ist alles so voller Schimmel! Wir sind vorhin zu Marc gegangen deswegen, der aber nur so: ‹Ihr habt hier keinerlei Ansprüche zu stellen!› Echt voll so ein geiles Vier-Sterne-Hotel!»
Wir saßen in einem Frühstückscafé gegenüber vom Hotel. Nach der anstrengenden Fahrt hatte ich heute Nacht tief und fest geschlafen. So hatte ich von dem Trubel nichts mitbekommen. Zudem hatten Annika und ich Glück gehabt: Unser Zimmer entsprach weiß Gott auch nicht dem, was man von einem Vier-Sterne-Hotel erwartete. Es gab zwei Queen-Size-Betten und einen altmodischen Fernseher. Nichts, was die Motels in Monterey und San Francisco nicht auch geboten hätten. Abgesehen von ein klein wenig Schimmel an den Handtüchern gab es aber nichts zu beanstanden. Imanuel erfuhr später von der Rezeptionistin, woran das lag: Die Männer, Annika und ich hatten Middle-Class-Rooms zugewiesen bekommen, die Knaben Low-Class-Rooms. Und bei den Low-Class-Rooms waren von den vier Sternen fünf abgeschaltet.
Offenbar hatte Marc uns mit seiner vollmundigen Ankündigung gestern alle getäuscht. Wenn er nicht selbst das Opfer falscher Versprechungen war.
Unser Aufenthalt in Los Angeles diente ganz offiziell der Erholung. Kein einziges Konzert sollten wir hier geben. Stattdessen stand ein erstaunlich altersgerechtes Freizeitprogramm auf dem Plan. Heute würden wir zu den Universal Studios Hollywood fahren, morgen nach Disneyland.
Ich war davon ausgegangen, dass die Universal Studios Hollywood das waren, was der Name vermuten ließ: Filmstudios, die man eben besichtigten konnte. Erst am Eingang sah ich, dass sie ein Freizeitpark waren. Wir kamen eine Stunde zu früh dort an, der Park hatte noch nicht geöffnet. Wir wurden angewiesen, uns die Zeit in den umliegenden Souvenir-Shops zu vertreiben.
Ich dachte nicht daran. Wenn es irgendwo in diesem Land Killerspiele zu kaufen gab, dann bestimmt nicht hier. Auch die anderen Knaben konnten sich für das Angebot wenig erwärmen. Die meisten wandten sich spätestens ab, als sie sahen, was der Plunder kostete. Meine Güte, von dem Geld konnte man ja 149 Minuten zu spät wieder beim Bus sein und hätte noch neunundneunzig Cent gespart.
Der kleine Tim kannte da doch einen besseren Weg, sich die Zeit zu vertreiben. Er formte seine Eintrittskarte zu einem Flieger und ließ sie durch die Lüfte sausen. Bereits dieser Jungfernflug endete jedoch tragisch. Der Flieger krachte gegen einen Wand und stürzte vertikal in einen Spalt. Dort drinnen würde er wohl bleiben, Tims Arm war zwar dünn, aber nicht lang genug, den Flieger zu erreichen. Die fünfundsiebzig-Dollar-teure Eintrittskarte war weg.
Tim ging mit einigen anderen Knaben zu Marc. Der nahm es für seine Verhältnisse gelassen. Er machte sich auf, die Karte höchstpersönlich aus dem Spalt zu ziehen. Es gelang ihm nicht. Sein Arm war zwar lang genug, aber zu dick, den Flieger zu erreichen. Ein herbeigerufener Security-Mann wusste Rat. Er besorgte einen Besenstiel, an dessen Ende er ein Kaugummi klebte. Damit hatte er ein Werkzeug geschaffen, das lang und dünn genug war, den Flieger zu erreichen. Mit einer geschickten Handbewegung fuhr er in den Spalt und holte ihn heraus. Die fünfundsiebzig-Dollar-teure Eintrittskarte war gerettet. Jetzt musste sie nur noch von Kaugummiresten befreit werden.
Ich bekam das alles wohlgemerkt nur am Rande mit. Meine Aufmerksamkeit galt Philipp.
Er sang: «Er gehört zu mir, wie mein Name an der Tür, und ich weiß er bleibt hier –»
Gehörte der Name an der Tür so sehr zu einem? Ich hatte ja immer gedacht, dass der nur hing, damit andere wissen, wer hier wohnt. Und das waren ja meist eher Leute, die einen nicht so gut kannten.
Nun ja.
«Eine natürliche Zuflucht –», sagte ich.
«– wurde entdeckt», erwiderte Philipp.
Und schon waren wir wieder bei seinem Lieblingsthema.
«Am besten finde ich beim Anfangsvideo von Anno 1602 ja die Stelle mit: ‹Neue Verträge wurden geschlossen›», sagte ich.
«Du meinst: ‹Als schlussendlich nichts mehr wert war, noch darum zu kämpfen, schlossen wir neue Bündnisse und Handelsabkommen, die unseren Träumen und Hoffnungen zu neuen Höhenflügen verhalfen.›»
Wir schüttelten einander die Hände wie die beiden Herren in besagtem Anfangsvideo. Dann stimmten wir ein in das Lied, das dabei immer erklang.
Den Rest des Tages würde ich ohne Philipp auskommen müssen. Wir waren wieder in Patengruppen unterwegs. Und meine bestand nun einmal aus Annika, Andrea, Guido und Morle.
Die erste Attraktion, die wir aufsuchten, war ein Zurück-In-Die-Zukunft-Simulator. Ich hatte den dazugehörigen Film seit mindestens fünf Jahren nicht mehr gesehen und war der Meinung, dass er eher etwas für Kinder wäre. Umso mehr wunderte ich mich über Annikas Euphorie beim Betreten des überdimensionalen DeLoreans. Wir wurden in eine große Kuppel gehoben. Hier begann nun die virtuelle Fahrt durch Vulkane, den Wilden Westen und an dem berühmten Rathaus mit der Uhr vorbei.
Ich war zum ersten Mal begeistert von etwas, das wir auf dieser Reise machten. Imanuel und einige andere Knaben, denen wir beim Hinausgehen begegneten, gaben sich demonstrativ unbeeindruckt.
«Ey, wenn man nach links und rechts geguckt hat, hat man voll die ganzen anderen Gondeln gesehen.»
Ich hatte zugegebenermaßen nicht nach links und rechts gesehen, sondern mich der Show hingegeben. Auch mir passierte so etwas mal.
In der nächsten Attraktion würden wir wohl keinen anderen Knaben begegnen. Die durften nämlich noch gar nicht rein ins Terminator-2-3D-Kino. Die Schlange davor war lang. Wie lang war kaum auszumachen, so verzweigt war das Labyrinth aus Wegen, das zum Eingang führte. Ich fühlte mich an eine Szene aus der Zeichentrickserie Neds Bösenachtgeschichten erinnert. Dort hatten sie in einem Freizeitpark wie diesem für die Geisterbahn angestanden. Irgendwann waren sie an ein Schild gekommen: ‹Wartezeit noch mindestens neun Stunden›.
Das Warten sollte sich gelohnt haben.
Bevor wir den eigentlichen Kinosaal betraten, kamen wir in eine Halle. Eine blonde Dame in einer Art Uniform begrüßte uns. Was sie sagte, verstand ich kaum, es enthielt aber auffällig oft das Wort Super, auf Englisch gesprochen. Jedes Mal, wenn sie es sagte, grinste sie breit. Guido und Morle johlten.
Der Film zeigte eine Schlacht zwischen Kampfroboter und Drohnen. Warum und worum sie kämpften, war für mich nicht zu ersehen. Es war mir eigentlich auch ziemlich egal. Die Effekte jedenfalls hatten es in sich. Das war doch mal ein Erlebnis, auf das ich als Zuhausegebliebener neidisch gewesen wäre.
Unsere nächste Station war eine Tiershow. Diese fand allerdings gerade nicht statt, erst um vierzehn Uhr würde es soweit sein. Solange war das hier mehr eine Art Freilichtkino mit Dschungelkulisse.
Jonas kam uns entgegen.
«Na, das hätte ich mir ja denken können», sagte er, «Kaum gehe ich in die langweiligste Show rein, schon treffe ich euch.»
Zwar hätten wir das Gleiche zu ihm sagen können, dennoch nahmen wir lieber schnell Reißaus. Es gab ja in der Tat doch lohnenswertere Attraktionen hier.
Wir gingen zu einem Die-Mumie-Labyrinth. Weil man dieses nicht in einer großen Gruppe durchqueren durfte, teilten wir uns auf. Ich ging zusammen mit Annika rein.
Wir durquerten einen engen Gang. Eine Plastikhand kam aus der Wand empor. Annika schrie. Einige Meter weiter öffnete sich urplötzlich ein Sarkophag und eine Mumie streckte ihren Kopf heraus. Annika schrie erneut.
Meine Güte, so kannte ich meine Schwester ja gar nicht.
«Hast du etwa Angst bei sowas?», fragte ich.
«Ja! Ich bin bei sowas vor allem so derbe schreckhaft!»
Das war ja mal ein Bekenntnis. Annika, die keinen Horrorfilm und keine Achterbahn ausließ, die schon einen Bungee-Sprung hinter sich hatte, hatte Angst vor Geisterbahnen. Dazu noch in einer solch müden wie dieser hier.
«Also ich bin ja auch schreckhaft», sagte ich, «aber nur, wenn ich nicht erwarte, erschreckt zu werden.»
Mein großer Bruder machte sich am Morgen immer mal wieder einen Spaß daraus, mir spontan ins Ohr zu schreien, wenn ich ins Bad ging.
«Bei mir ist es genau umgekehrt. Wenn ich weiß, dass ich erschreckt werde, erschreck’ ich mich besonders – Ah!», sagte Annika. Ein Skelettarm baumelte plötzlich vor ihrem Gesicht herum.
Ich hätte diese Attraktion am liebsten im Geschwindmarsch hinter mich gebracht, so sehr langweilte sie mich. Annika jedoch bestand darauf, dass ich dicht bei ihr blieb.
Bei Jurassic Park: The Ride verkehrten sich die Rollen. Annika konnte es kaum abwarten, den sechsundzwanzig Meter hohen Steilhang dieser Wildwasserbahn herunterzufahren. Ich hingegen bekam schon beim Anblick Höhenangst. Wir kamen schnell darin überein, dass es wohl das Beste wäre, wenn ich draußen wartete.
So stand ich da und lauschte der Musik, die schon seit Stunden in der Endlosschleife durch den Park schallte.
Vor meinem inneren Auge sah ich einen Jungen mit seinem selbstgebastelten Gerät ins Weltall fliegen. Ihm stand ein Leben bevor, das ich nur im Killerspiel leben konnte. Die Musik gab mir das Gefühl, mit ihm tauschen zu können.
Wir ließen den Abend in einem Gartenrestaurant fernab des unseligen Vier-Sterne-Hotels ausklingen. Mit mir am Tisch saßen Imanuel, David, Philipp und noch einige andere. Wir wurden als vorletztes mit Essen versorgt.
Für Klaas, der am Nachbartisch saß, ein Unding.
«Hey, warum kriegen selbst die noch vor uns?», sagte er.
«Weil wir schöner sind», erwiderte ich.
Ich hielt das selbst für keinen sonderlich einfallsreichen Konter. Imanuel lachte dennoch schallend.
«‹Weil wir schöner sind› Haha, wie geil!», sagte er.
Ein Lob, das mir schmeichelte.
«Komm», sagte ich, «eine Runde Mitleid für den Männertisch!»
«Und jetzt noch eine Dose Mitleid!», sagte ich.
«‹Ein Büchse Mitleid›, heißt das!», entgegnete Imanuel, «Eine Büchse Mitleid: Oh, schon alle.»
Darauf gab es eigentlich nur einen Konter.
«Meine Tante hat ’nen dicken Blähdreistift – Ach, Scheiße!»
Imanuel wieherte vor Lachen: «‹Blähdreistift›, hahaha!»
«Meine Tante hat ’nen dicken Drehbleistift und in Afrika ist Muttertag. So», sagte ich.
«Wer hat das noch gesagt?»
«Frau Siebenkittel. Die sagt das doch ständig.»
«Ach stimmt – Ey, Lenni-Löwe: Was ist das Heftigste, was Frau Siebenkittel jemals zu dir gesagt hat?»
Ich holte tief Luft: «‹Lenni-Löwe, du kannst nach Hause gehen und deiner Mutter sagen: dass sie fünf Jahre lang das Geld für den Chor aus dem Fenster geschmissen hat, weil du immer noch nicht den Mund aufmachst!›»
Ich erntete eine mehrminütige Lachsalve.
«Hahaha, das ist gut!», sagte Imanuel, «Kannst du noch mehr Sprüche? Du kannst Frau Siebenkittel echt so geil nachmachen, Lenni-Löwe.»
«Hm», sagte ich, «‹Ich verbiete dir ab jetzt, mit dieser Hose zum Chor zu kommen. Weil du immer daran rumpulst!›»
Imanuel war auch davon begeistert.
«Hahaha! Ey, weißt du auch das Heftigste, was Frau Siebenkittel mal bei uns in der Einzelstimmbildung gebracht hat?»
«Nein, sag mal.»
«Weißt du, da kam so ein Vater rein, der irgendeine Tasche aus dem Raum holen wollte, die sein Sohn liegen lassen hat. Und wir haben den halt nicht bemerkt. Und Frau Siebenkittel schnauzt uns so an: ‹Herrgott, wie oft habe ich es jetzt schon gesagt? Bis wohin sollt ihr atmen?› Und wir brüllen dann so: ‹In die Eier sollen wir atmen!› Und in dem Moment bemerken wir halt so den Vater. Als der raus war, haben wir uns so totgelacht, ey!»
Das glaubte ich ungesehen.