In a strange land
Perlen von Holstein Folge 73
Es war drei Uhr nachts und ich merkte, dass ich wach war. Ich konnte nicht sagen, wie lange schon, denn ich war nicht aus einem bösen Traum hochgeschreckt. Ich hatte einfach nur irgendwann aufgehört zu schlafen. Nach der Ursache brauchte ich nicht lange zu suchen, das Ticken war mehr als deutlich zu vernehmen. Es stammt von der Uhr, die neben meinem Bett auf dem Nachtschrank stand. Sie hatte kein Gehäuse. Ich wusste, dass es diese Uhr war und keine andere, denn so laut war sonst keine in diesem Haus. Und das war beachtenswert, denn die Konkurrenz war groß.
Wir hatten Los Angeles und sein Vier-Sterne-Hotel hinter uns gelassen und waren nach San Diego weitergefahren. Ich hatte von dieser Stadt noch nie etwas gehört, erinnerte mich nur wage daran, einmal eine Zeichentrickserie namens Wo steckt Carmen Sandiego? gesehen zu haben. Seitdem wir hier angekommen waren, sang eine Stimme in meinem Kopf das Titellied in der Endlosschleife.
Mit der Zweiklassengesellschaft war ganz offiziell Schluss. In San Diego schliefen wir alle bei Gastfamilien, egal ob Knabe oder Mann. Es bestand dennoch kein Anlass, meine bröckeligen Englischkennnisse unter Beweis zu stellen. Annika hatte unserem Gastvater gleich zu Beginn klargemacht: «He isn’t much of a talker, I talk for him.»
«Okay», hatte der geantwortet.
Er hatte mich kommentarlos auf der Rückbank seines Autos Platz nehmen lassen. Annika und er saßen vorne und unterhielten sich. Im Radio hatten sie irgendwas von einem Sniper erzählt, der in gerade in Washington sein Unwesen trieb. Unser Gastvater hatte irgendwas dazu gesagt und dabei das Wort Sniper Gun benutzt. Ich hatte kurz überlegt, ob ich ihn darauf hinweisen solle, dass es Sniper Rifle hieß, es aber bleiben lassen. Wer wusste schon, ob nicht beides zulässig war und die Killerspiele bloß den Ausdruck Rifle bevorzugten.
Beim Betreten seines Hauses war uns gleich die Vielzahl an Uhren aufgefallen, die überall standen und hingen. Wenn man anfing, sich auf die gleichmäßigen Bewegungen der Zeiger und Pendel zu konzentrieren, wurde einem schwindelig. Wir hatten uns aber nicht lange hier aufgehalten. Der Mann hatte uns nur kurz unsere Zimmer gezeigt und uns unser Gepäck abladen lassen. Dann war er mit uns zu einem Restaurant gefahren. Unterwegs hatten wir noch eine Frau abgeholt, wahrscheinlich seine ehemalige oder zukünftige Lebensgefährtin.
Ich hatte befürchtet, in ein Sternerestaurant geführt zu werden und mich benehmen zu müssen. Doch der Mann hatte uns zum einem Schuppen im Fünfzigerjahrestil gebracht. Es hatte Pommes, Burger, Steak, Cola und was das Herz sonst noch begehrte, gegeben. Dann hatten die Kellner mit ihren Tabletts zu Rock around the Clock getanzt. Sehr zur Belustigung unseres Gastvaters und der Frau.
Zu dem Haus und den Uhren waren wir erst spätabends zurückgekehrt. Ich war so schnell im Bett gewesen, dass mir nicht aufgefallen war, wie unheimlich es hier war. Nicht wegen der Uhren, wegen des Hauses an sich. Es war ein typisch amerikanisches Einfamilienhaus, wie ich es in so vielen Serien und Filmen schon gesehen hatte. Sein Anblick stand bei mir für ein ganz bestimmtes Gefühl von Fremde. Jenes Gefühl von Fremde, das ich immer gespürt hatte, wenn meine Geschwister und ich früher Pete & Pete gesehen hatten. Die Mundbewegungen der Schauspieler hatten immer überhaupt nicht zu dem gepasst, was die Sprecher gesagt hatten. Eben so wenig ihr Aussehen zu den Stimmen. Außerdem waren da immer so befremdliche Leute aufgetaucht. Wenn ich mir alleine diese Lehrerin vorstellte, deren Krampfadern das örtliche Straßennetz abbildeten.
Ich dachte gerade aber nicht wirklich an Pete & Pete, sondern an Grusel, Grauen, Gänsehaut, genauer: an die Folge Die Geschichte von der Zauberwurzel. Ein Junge mit einem Mann in einem Haus wie diesem alleine gewesen. Der Mann hatte den Arm über das Gesicht gleiten lassen und seine wahre Gestalt offenbart: Die eines Gevatter Tods mit grünem Gesicht. Ich wäre damals am liebsten vom Fernseher weggerannt. Nun, fünf Jahre später, fragte ich mich wieder, ob so etwas wohl auch in Wirklichkeit passieren konnte. Dieses Dunkel mit all den Uhren schien doch der richtige Ort dafür zu sein.
Das Exemplar auf meinem Nachtschrank tickte noch immer erbarmungslos.
Mein Blick fiel auf den Fernseher am Ende meines Bettes. Es war wirklich ein Phänomen: Nach fast zwei Wochen waren wir noch immer nicht auch nur in die Nähe eines Killerspiel-Geschäfts gekommen. Fernseher aber, die gab es in diesem Land wirklich überall. In Hotels, Motels und sogar in Gästezimmern wie diesem. Dabei würde unser Gastvater doch wohl kaum ständig Leute beherbergen. Wir waren ja auch nur bei ihm untergekommen, weil er bei einem San Diegoer Chor mitsang. Fernsehgeräte schienen tatsächlich einfach zur Grundausstattung zu gehören.
Das Schöne an amerikanischen Fernsehern war ja, dass man sie via Fernbedienung einschalten konnte – auch wenn sie nicht auf Standby waren. Ich beschloss, davon Gebrauch zu machen. Das Licht des Bildschirms würde den Gevatter Tod aus Grusel, Grauen, Gänsehaut ziemlich wahrscheinlich in Schach halten. Ich stellte also den Fernseher ein schaltete zu einem Kanal durch, auf dem unter Garantie auch um diese Uhrzeit nichts Unheimliches kam: Cartoon Network. Das war noch so ein Vorteil von Amerika: Für wirklich alles gab es einen eigenen Sender.
Unser Gastvater brachte Annika und mich überpünktlich zur St. Pauls Cathedral, in der wir heute proben und morgen auftreten würden. Wir trafen eine Stunde vor Probenbeginn dort ein. Keine Menschenseele war zu sehen. Annika schlug vor, einen kleinen Spaziergang zu machen. Ich willigte ein. Zwar war nicht davon auszugehen, dass es in dieser Gegend Killerspiel-Geschäfte gab, doch alles war besser, als blöd hier herumzusitzen.
Wir gingen eine verwaiste Straße entlang. Auf der rechten Seite eine Grünfläche mit Palmen, auf der linken Häuser aus weißem Stein. Es sah ein wenig aus wie Hollywood in den Zeichentrickfilmen. Die Menschenleere ließ mich dennoch wieder an Pete & Pete denken. Ich rechnete die ganze Zeit damit, auf jene Telefonzelle zu treffen, die in einer Folge seit siebenundzwanzig Jahren ununterbrochen geklingelt hatte.
Wir kamen an eine Ampel. Annika drückte überflüssigerweise den Knopf. Sie sprang sofort auf grün um. Wir blieben einige Sekunden irritiert stehen und gingen dann weiter. Bekanntermaßen waren Ampelknöpfe oft nur Attrappen, grün wurde früher oder später ganz von selbst. Es war wohl reiner Zufall, dass Annika einfach genau in dem Moment den Knopf gedrückt hatte.
Wir kamen zu einer weiteren Ampel. Annika drückte den Knopf, sie sprang sofort auf grün um.
«That’s weird. It always turns green immediately», sagte Annika.
Ja, das war in der Tat weird, um nicht zu sagen, es war ein Grund zu sagen: Hier stimmt doch etwas nicht. Ich kannte eine Pete-&-Pete-Folge, in der der Schulbusfahrer die ganze Folge lang darauf wartete, dass die Ampel endlich grün wurde. Das mochte eine Überspitzung gewesen sein, entsprach aber durchaus meinen eigenen Erfahrungen: Ampeln wurden nicht augenblicklich grün.
An der nächsten Ampel standen Annika und ich dann gefühlte drei Minuten, bis es endlich grün wurde. Ich war froh darüber.
Eine halbe Stunde später waren wir wieder bei der St. Pauls Cathedral. Dort hatten sich inzwischen einige Männer eingefunden, unter ihnen Türschubser-Moritz. Annika erzählte ihnen von unserem Gastvater und seinen Uhren.
«Und das sind keine billigen Uhren. Im Wohnzimmer lag so ein Bon rum. Eine einzige von denen kostet hundert Dollar.»
«Ach», sagte Türschubser-Moritz, «unsere Gastmutter ist viel geiler. Die ist so total gegen Bush und den Irak-Krieg. Die meinte gestern beim Abendessen so: ‹Was Bush gerade mit dem Irak macht, ist genauso wie das, was Hitler damals mit Polen gemacht hat!› Voll geil, Alter, haha!»