The Long Road to Victory

Perlen von Holstein Folge 74

Nach der Probe begaben wir uns alle gemeinsam auf die Grünfläche mit Palmen gegenüber der St. Paul’s Cathedral. Picknick war angesagt. Eine Unternehmung so spannend wie eine zehnstündige Busfahrt nach Los Angeles. Ich las Philipp gleich noch mal seine Lieblingspassagen aus meinem Gamestar vor.

«‹Gewöhnungsbedürftiger 3D-Bastelbogen-Look mit kunterbunten Farben!›»

«Hahaha!»

«‹Necromania blamiert sich schon nach wenigen Spielminuten als grottenhässlicher, sterbenslangweiliger Spielspaßkiller.›»

«Hahaha!»

Auch Annika brachte ich zum Lachen: mit einer uralten Geschichte, an die ich in dieser Situation denken musste.

«Wollt ihr Picknick oder McDonald’s?», fragte ich sie.

Womit ich auf ihre Schüleraustauschreise nach Toulouse anspielte. Diese Frage war Annika dort von ihrer Gastmutter gestellt worden. Bevor sie irgendwas hatte erwidern können, hatte ihre Gastschwester Lorraine bestimmt: «Pique-Nique!» Zu Essen hatte es Pfannkuchen gegeben, die laut Annika wie Seife geschmeckt hatten. Von weiteren Frankreich-Aufenthalten hatte unsere sonstige Weltenbummlerin seither abgesehen.

Der heutige Tag schien sich in den Kopf gesetzt zu haben, mich einmal mehr an der Zurechnungsfähigkeit des Werbetexters von N24 zweifeln zu lassen. Deren Claim lautete ja tatsächlich: ‹Nichts ist so spannend wie die Wirklichkeit.› Was ich von dieser Auffassung zu halten hatte, bewies nicht nur das Picknick, sondern auch der anschließende Strandausflug. Geplante Dauer: Drei Stunden. Gerne auch vier, wenn wir es wünschten.

Ich setzte mich in den Sand und ließ die Gedanken kreisen. Mein Interesse, schwimmen zu gehen, ließ sich treffend durch ein Vakuum beschreiben. Nicht, weil das Wasser salzig, kalt und eklig war, das kam nur erschwerend hinzu. Ich wollte nicht hier in der Öffentlichkeit meinen Oberkörper entblößen. Meine Klassenkameraden hatten mich ja nicht ganz ohne Grund Krüppelkind genannt.

Einer von den Männern kam zu mir.

«Los, Lenni-Löwe, jetzt zeig mir mal deinen Beach-Boy-Body-Bauch!»

Sehr witzig.

Ein weiterer Mann kam zu mir und drückte mir ein Meatball-Sandwich von Subway in die Hand. Es war schon jetzt voller Sand. Ich aß es trotzdem. So verging wenigstens die Zeit.

Meine Güte, in den Stunden, die wir hier vertrödelten, hätte man hundert Mal Battlefield 1942 kaufen können.

Als hätten sie meinen Gedanken geraten, kamen Annika, Morle, Guido, Jonas, Klaas und Löning auf mich zu.

«Ey, Leo», sagte Annika, «wer von den Männern Lust hat, darf jetzt mit zu so einem großen Parkplatz mit ganz vielen Geschäften fahren. Willst du mit?»

Das ließ ich mich nicht zwei Mal fragen.

Wir fuhren zu einem Einkaufspark. Zwei Stunden Zeit gewährte man uns. Mehr als genug, um ein frisch erschienenes Killerspiel zu bekommen, wenn man gleich das richtige Geschäft ansteuerte.

Wir steuerten gleich das falsche Geschäft an. Beim Anblick des Schildes mit der Aufschrift Old Navy hatte ich noch geglaubt, hier könnte vielleicht eine ganz bestimmte Art von Killerspiel zu finden sein. Jene, zu der Battlefield 1942 gehörte. Doch natürlich irrte ich mich. Old Navy bot eine ganz bestimmte von Kleidung. Jene, die Annika und die Männer schätzten. Ich ließ mich von ihnen zu einer Wand mit Halloween-Boxershorts führen. Dort blieb ich stehen. Eine Stunde lang. Mehrmals kam Annika zu mir.

«Leo, if you wanna buy something, just tell me. Okay?»

«Okay.» sagte ich. Und fragte mich, ob meine Schwester noch richtig tickte. Was bitte sollte ich hier kaufen wollen?

Endlich verließen wir den Laden. Die Männer gingen einen Geldautomaten suchen, Annika und ich warteten in der Mitte des Parkplatzes auf sie.

«Ey, die neuen Akte-X-Folgen sind ja wohl mal voll scheiße», sagte ich. Ich hatte zwar schon seit Monaten kein Akte X mehr gesehen – es war wie gesagt scheiße geworden. Doch ein anderes Thema, über das ich mit Annika reden wollte, kannte ich nicht.

«Oh, Leo, you are my brother!», sagte sie, «Let me guess: You don’t like the new main characters, they’ve invented to replace Scully and Mulder!»

«Ja, dieser Doggett ist so langweilig. Und diese Schwarzhaarige sieht ja wohl mal voll aus wie eine Hexe.»

«You mean Monica Reyes? Of course you do. You didn’t even know her name, did you?»

«Nö, seitdem die da ist, habe ich endgültig aufgehört, das zu gucken.»

«Oh, Leo, you are my brother! You know: No one in the fan community likes Dogget and Monica, either. Doggett is called Dogface and Monica is called Moronica in the fan boards.»

«Haha! Wieso Moronica

«Well, ’cause she is fuckin’ moron.»

«Ach so, haha! Aber die alten Folgen waren echt viel besser!»

«Oh, yeah. Which one was your favorite episode?»

«Ich weiß gar nicht, wie die hieß. Ich habe die, glaube ich, auch nicht ganz gesehen, weil ich Angst bekommen habe oder Hausaufgaben machen musste oder so. Da ist Scully in so eine Halle gekommen und dann waren da lauter solche Glaskästen mit solchen Alien-Embryos.»

«Oh, I think I know which episode you mean. Yeah, that scene was kind of creepy.»

Die Männer kehrten von ihrer Suche zurück. Sie war erfolglos verlaufen.

«Ey, das kann doch nicht wahr sein, dass hier nirgends ein Geldautomat ist», sagte Jonas.

«Warte –», sagte Löning. Er deutete auf eine Häuserwand, die keine zwanzig Meter von uns entfernt war, «dahinten ist die ganze Zeit ein Automat gewesen.»

«Oh, Mann.»

Wir folgten ihnen zu dem Automaten. Dort machte Jonas eine Entdeckung.

«Ey, guckt mal, hier hat einer seine Karte stecken lassen!»

«Geil, jetzt brauchen wir nur noch die PIN, dann können bestimmt die fetten Tausender abheben», sagte Löning.

«Also so wie der Typ aussieht, würde ich aufpassen. Wenn der uns erwischt, zieht der bestimmt gleich ’ne Knarre.»

Er zeigte uns die Karte. Darauf war das Bild eines Mannes mit klobiger Drahtbrille und Vollbart zu sehen. Ich fand nicht, dass er gefährlich aussah.

«Tja, ist die Frage: Was ist jetzt schlauer? Sollen wir das Ding zur Polizei bringen oder besser hier liegen lassen, ehe der Typ uns noch damit erwischt – Oh guckt mal, da kommt er.»

Ein Mann mit klobiger Drahtbrille und Vollbart kam auf uns zu. Jonas streckte ihm die Karte entgegen.

«Oh, thank you so much», sagte der Mann.

Er nahm die Karte und verschwand in einem der Läden.

«Der guckt jetzt bestimmt gleich nach, ob wir auch wirklich nichts mit der Karte abgehoben haben.»

«Ja, Mann. Ey, wenn wir das gemacht hätten, würde der jetzt bestimmt mit vorgehaltener Knarre wieder aus dem Laden rauskommen. Ich schwöre es euch!»

Ohne Knarre, aber mit dem aufrichtigsten Dank kehrte der Mann zu uns zurück. Was genau er sagte, verstand nicht nur ich nicht, sondern auch einige der Männer. Annika übersetzte.

«Er hat uns angeboten, dass wir in dem Laden, wo er arbeitet, mit Mitarbeiterrabatt einkaufen können.»

«Und was für ein Laden ist das?», fragte Jonas.

«Tweeter, das ist glaub ich so ein Laden mit Elektrogeräten.»

«Gibt es da auch Computerspiele?», fragte ich.

«Ich glaube nicht, aber mal gucken!»

«Ach, Lenni-Löwe will Computerspiele kaufen», fragte Löning.

«Ja», sagte Annika, «so ein ganz neues – Wie hieß das noch mal?»

«Battlefield 1942

«Oh, cool!», sagte Löning.

Wir folgten dem Mann zu Tweeter. Dort gab es MP3-Player, Hi-Fi-Anlagen und Lautsprechersysteme. Keine Killerspiele.

Jonas, Klaas und Löning entschieden sich für je einen MP3-Player. Der Mann tippte lange auf einem altmodischen Computer herum und ließ ihren Rabatt errechnen. Er lag jeweils zwischen fünfzehn und zwanzig Prozent. Da sagten die drei nicht Nein. Sie bezahlten und wir gingen wieder nach draußen.

Von den zwei Stunden waren mittlerweile nur noch zwanzig Minuten übrig. Ich glaubte schon, einmal mehr um mein Killerspiel geprellt worden zu sein, da hatte Löning einen Vorschlag zu machen.

«Ey, Lenni-Löwe, wenn du Computerspiele suchst, als wir vorhin den Geldautomaten gesucht haben, habe ich da ganz hinten einen Target gesehen. Die müssten sowas doch eigentlich haben.»

«Ja», sagte Annika, «bei Target haben sie eigentlich alles. Würdest du kurz mit ihm hingehen? Ich gebe dir dann gleich das Geld wieder.»

«Klar.»

«Okay, aber beeilt euch, ich seh’ dahinten schon den Bus kommen.»

Der Target lag entlegen an einem eigenen Großparkplatz. Wir mussten ein ganzes Stück laufen, um zu ihm gelangen. Er war deutlich größer als die anderen Geschäfte. An der Fassade prangte eine rote Zielscheibe, offenbar das Logo von Target. Deutlicher hätte man es wohl nicht signalisieren können: Hier gab es Killerspiele.

Wir gingen rein. Tatsächlich, nicht weit vom Eingang entfernt hing über einem Regal ein Schild: PC games. Ich stürmte hin. Zeit, die Schönheit der unzähligen Verpackungen zu genießen, war keine. Ich griff mir ein Exemplar von Battlefield 1942 und huschte damit zur Kasse. Löning kam mir mit dem Geld hinterher.

Auf dem Weg zurück zum Bus, unterhielten wir uns ein wenig.

«So, du spielst also Computerspiele, Lenni-Löwe. Was hörst du denn so für Musik.»

«Linkin Park», sagte ich. Das stimmte ganz und gar nicht. Ich kannte gerade einmal ein Lied und auch das nur auszugsweise. Doch war ich mir ziemlich sicher, dass das die Antwort war, die Löning hören wollte. Jeder liebte zur Zeit Linkin Park. In New York hatte ich an einem CD-Laden großflächige Werbung für ihr aktuelles Album Reanimation gesehen. Sie waren in, bei Menschen in Lönings Alter erst recht.

Ich lag goldrichtig.

«Ja», sagte Löning, «ich bin auch eher ein Freund der härteren Sachen.»

Dann sah er auf die Uhr.

«Oh, ich glaube wir müssen jetzt wirklich rennen. Marc wird sonst wieder abkassieren.»

Wir rannten los.

«Ich finde das so bescheuert», sagte ich, «das mit dem einen Dollar pro Minute. Vor allem, dass erst so getan wurde, als wäre das nur ein Witz und dann sollen wir plötzlich wirklich bezahlen.

«Hast absolut recht, Lenni-Löwe.»

Was hätte Löning auch widersprechen sollen. Es waren ja seine Worte, die ich mehr oder weniger zitierte.

Sie war wunderschön. Wunderwunderwunderschön. Sie war aus feinem Karton, doch sie war nicht groß, wie die Killerspiel-Packungen, die es früher in Deutschland gegeben hatte. Vielmehr hatte sie das Format der heute üblichen DVD-Hüllen, nur dass sie dicker war. Und wie sie aufgemacht war. Die Pappe unter den Battlefield-1942-Logos war ein wenig aufgewölbt. Man konnte sie mit den Fingern ertasten. Zudem lies sich die Front der Verpackung aufklappen. Eine Übersicht mit den Spielfunktionen kam zum Vorschein: «Choose your Side. Choose your battlefield. Choose your weapon.»

Sicher, hier im Land, wo Milch und Honig fließen, war diese Verpackung nichts Besonderes. Ich hatte die der anderen Spiele gesehen. Renegade war genauso aufgemacht gewesen. Bei der von GTA III war gar jedes Einzelbild mit einer andersfarbigen Hochglanzfolie unterlegt gewesen. Nein, in Amerika war die Packung von Battlefield 1942 nichts Besonderes. In Deutschland jedoch würde sie das Prunkstück meiner Sammlung sein.

Ich drehte sie um.

«In the air – In the deep – On the battlefield»

Ich war bereit.

Auf dem Uralt-Computer, der in meinem Gastzimmer stand, würde ich das Spiel nicht spielen können. Der hatte vierhundert Megahertz. Einhundert zu wenig. Doch das machte nichts. Ich hatte so lange gewartet. Die paar Tage, die wir noch in Amerika sein würden, hielt ich schon noch durch.

Annika kam herein.

«Are you happy now, Leo?», fragte sie.

Ich nickte, den ironisch-vorwurfsvollen Tonfall in ihrer Stimme ignorierend. Mir reichten schon die Diskussionen, die ich mit meiner Mutter bald wieder haben würde.